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Im Mai 2025 lädt Leipziger Gewandhaus ein zu einer der umfangreichsten Werkschauen anlässlich des 50. Todestages von Dmitri Schostakowitsch, mit dem Gewandhausorchester, dem Boston Symphony Orchestra und zahlreichen internationalen Künstler*innen. Ein Vorab-Interview dazu mit Andris Nelsons.

Der Gewandhauskapellmeister ist der »spiritus rector« des Schostakowitsch Festivals Leipzig vom 15. Mai bis 1. Juni 2025 und wird den Großteil der Konzerte selbst dirigieren. Andris Nelsons und Anna Rakitina dirigieren alle Sinfonien und Solokonzerte Schostakowitschs. Eine umfangreiche Kammermusikreihe und zwei Aufführungen der Oper Lady Macbeth von Mzensk an der Oper Leipzig runden das Festivalprogramm ab. Mit Tobias Niederschlag, dem Leiter des Konzertbüros am Gewandhaus, sprach Andris Nelsons vorab über seine persönliche Beziehung zur Musik des russischen Komponisten und die Höhepunkte der Leipziger Werkschau im Schostakowitsch-Jahr 2025.

Lieber Andris, 2025 würdigen wir den 50. Todestag von Dmitri Schostakowitsch mit einem großen Schostakowitsch-Festival in Leipzig. Was ist so besonders daran?

Da gibt es viele Dinge. Ein solches Jubiläum ist immer eine Gelegenheit, das Genie eines Komponisten einem größeren Publikum vorzustellen. Das war schon 2006 der Fall, als Schostakowitsch anlässlich seines 100. Geburtstages weltweit gewürdigt wurde. Viele Menschen haben damals seine Musik zum ersten Mal gehört und lieben gelernt. Leipzig ist zudem eine Stadt, die historisch und politisch von großer Bedeutung ist, eine Stadt, die hinter dem Eisernen Vorhang lag und von der die Friedliche Revolution ausging, die letztlich zum Fall der Berliner Mauer führte. Die Werke von Schostakowitsch hier aufzuführen, im wunderbaren Gewandhaus – das ist tatsächlich etwas Außergewöhnliches. Alle 15 Sinfonien stehen auf dem Programm, außerdem die Solokonzerte, die Kammermusik inklusive der 15 Streichquartette, die Oper Lady Macbeth von Mzensk, Klaviermusik, Lieder und vieles mehr. Jeder ist herzlich willkommen, dieses großartige Schaffen bei unserem Festival live zu erleben und mit uns gemeinsam das Genie Schostakowitsch zu feiern.

Sie dirigieren einen Großteil dieses Repertoires am Pult Ihrer beiden Orchester: des Gewandhausorchesters und des Boston Symphony Orchestra.

Dass diese Kooperation gelungen ist, darauf bin ich besonders stolz. Mit dem Boston Symphony Orchestra habe ich in den vergangenen Jahren einen kompletten Zyklus der Sinfonien Schostakowitschs, der Solokonzerte und der Oper Lady Macbeth aufgenommen. Ich war beglückt zu sehen, wie dieses Orchester die Musik geradezu umarmt und sich dieser besonderen Aufgabe mit aller Energie gestellt hat. Das Gewandhausorchester hat spätestens seit der Ära von Kurt Masur, der auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges sämtliche Sinfonien Schostakowitschs hier in Leipzig angesetzt hat, eine enge Beziehung zu diesem Repertoire. In Kombination mit Werken Beethovens war das ein wichtiges Statement! Und es gibt noch ein drittes Orchester, das an unserem Festival mitwirkt: ein Festivalorchester, das sich aus Mitgliedern der Mendelssohn-Orchesterakademie, des Tanglewood Music Center Orchestra und aus Studierenden der Leipziger Musikhochschule zusammensetzt. Es sind hochbegabte junge Erwachsene, die den Kalten Krieg nicht mehr selbst miterlebt haben, die aber sicher dennoch zur Essenz dieser vielschichtigen Musik vordringen werden. Ich freue mich, hierbei das Podium mit Anna Rakitina zu teilen, die mir in Boston mehrere Jahre lang assistiert hat und inzwischen eine eigene, vielversprechende Karriere als Dirigentin verfolgt.

Können Sie sich erinnern, wann Sie zum ersten Mal mit der Musik Schostakowitschs in Berührung gekommen sind?

Ich bin ja ein Kind des Ostblocks und im sowjetischen Lettland aufgewachsen. Als Schüler und junger Student konnten wir – meine Kommilitonen und ich – uns die Eintrittskarten für klassische Konzerte in Riga nicht leisten. Wir haben häufig bis zur Pause gewartet und uns dann in den Saal geschlichen, um die zweite Konzerthälfte zu erleben. Da stand meistens eine große Sinfonie auf dem Programm, von Beethoven, Tschaikowski und häufig auch von Schostakowitsch. Ich bin also zuerst mit der Sinfonik Schostakowitschs in Berührung gekommen, zuallererst, wenn ich mich richtig erinnere, mit der 12. Sinfonie. Natürlich hat mich, als jungen Trompeter, vor allem der Trompetenpart interessiert, der bei Schostakowitsch-Sinfonien häufig sehr herausfordernd ist. Die Hintergründe der Werke verstand ich damals noch nicht, wir sind mit den kommunistischen Idealen aufgewachsen und haben geglaubt, dass Lenin ein guter Mensch war, so etwas wie ein Heiliger. Erst später kamen mir Zweifel und ich habe mich mit der Entstehungsgeschichte und der komplexen Biografie Schostakowitschs näher beschäftigt. Das war aber erst in den frühen 1990er-Jahren. Seitdem gehört Schostakowitsch zu meinen absoluten Lieblingskomponisten, neben Strauss, Mahler, Wagner, Beethoven und einigen anderen.

Einer Ihrer wichtigsten Lehrer war der Dirigent Mariss Jansons, der – wenn man so möchte – der Leningrader Schostakowitsch-Tradition entstammte. Haben Sie mit ihm über die Hintergründe vieler Werke gesprochen?

Mariss war mein wichtigster Mentor, und ich verdanke ihm unendlich viel. Auch er ist in Riga aufgewachsen, aber schon mit 13 Jahren nach Leningrad gezogen, wo sein Vater Arvid Jansons, der selbst ein hervorragender Dirigent war, als zweiter Dirigent bei den Leningrader Philharmonikern wirkte. Dieses Orchester hat viele Sinfonien von Schostakowitsch uraufgeführt und wurde damals vom legendären Jewgeni Mrawinski geleitet. So wuchs Mariss im Umfeld seines Vaters und Mrawinskis auf und hat viele Gespräche mitbekommen – weniger über das Regime, das war verboten, sondern über die Musik. Und er hat Schostakowitsch in dieser Zeit noch persönlich kennengelernt. Es war immer sehr faszinierend und inspirierend, Mariss bei der Probenarbeit zu einer Schostakowitsch-Sinfonie zu beobachten. Er hatte ein so tiefes Verständnis für die Hintergründe dieser Partituren und konnte die Atmosphäre mit eindringlichen Bildern vermitteln. Ich erinnere mich an Aufführungen der 5., 6. und 8. Sinfonie in Berlin, Sankt Petersburg und Pittsburgh. Und an die 4. Sinfonie in München, die mich tief beeindruckt hat. Ich halte dieses Werk ohnehin für ein Schlüsselwerk von Schostakowitsch, für eine der großartigsten Sinfonien, die jemals geschrieben wurden. Deshalb haben wir sie auch für die Eröffnung unseres Festivals mit dem Gewandhausorchester ausgewählt.

Im Zentrum des Festivals stehen drei Aufführungen der 7. Sinfonie, der sogenannten Leningrader, für die Sie Ihre beiden Orchester zu einem gemeinsamen Klangkörper zusammenführen.

Wir knüpfen damit an gemeinsame Konzerte an, die wir im Rahmen der »Alliance«, die diese beiden wunderbaren Orchester seit einigen Jahren verbindet, 2019 in Boston gegeben haben. Dies wollten wir in Leipzig im Rahmen des Schostakowitsch-Festivals wiederholen. Die 7. Sinfonie ist für mich die unmittelbarste von Schostakowitschs Sinfonien. Sie entstand natürlich als Reaktion auf die schreckliche Blockade seiner Heimatstadt Leningrad durch Nazi-Deutschland. Ich denke aber, dass Schostakowitsch hier nicht nur einen Protest gegen die Invasion Hitlers formulieren wollte, sondern auch gegen die Tyrannei Stalins, der sein eigenes Land zugrunde richtete: Die eigenen Landsleute zu ermorden, einzusperren oder nach Sibirien zu verbannen, die »Intelligenzija«, die Ärzte und viele viele andere – das war eine weitere Katastrophe. Schostakowitsch war kein Politiker, er hat selbst unter dem Regime gelitten und versucht, mit einer doppelbödigen Musiksprache einen Ausweg zu finden. Als ein Patriot im besten Sinne glaubte er an sein Volk und an die humanistischen Ideale der russischen Kultur. Die Leningrader Sinfonie hat deshalb für mich eine große Symbolkraft, sie ist ein Protest gegen jegliche Art von Krieg und Unterdrückung. Leider sehen wir, dass diese Themen heute wieder erschreckend aktuell sind.

Ist es bei Schostakowitsch in besonderer Weise erforderlich, die Entstehungshintergründe zu kennen, um seine Werke entsprechend rezipieren zu können?

Oft sagt man: Je mehr man über ein Stück weiß, desto mehr hört man in der Musik. Das trifft sicher auch auf Schostakowitsch zu, bei dem es häufig auf die Zwischentöne ankommt. Allerdings kann man seine Musik nicht immer eindeutig einordnen. Manchmal gibt es Stellen, da fragt man sich: Ist das jetzt ironisch oder sarkastisch gemeint, führt Schostakowitsch uns an der Nase herum, oder bringt er einfach nur reine Freude zum Ausdruck? Wir wissen heute, wie schwer er es in seinem Leben hatte, er wurde zweimal vom Regime verurteilt und musste um das Leben bangen – sein eigenes und das seiner Familie. Deshalb schlief er viele Jahre angekleidet und mit einem gepackten Koffer neben dem Bett, um jederzeit bereit zu sein, falls die Schergen Stalins ihn abholen sollten. Um also Ihre Frage zu beantworten: Ich kann jeden nur ermutigen, sich mit der Biografie und der Musik Schostakowitschs zu beschäftigen, das ist unglaublich interessant und bereichernd. Am Ende läuft es jedoch immer auf die Verbindung zwischen Komponist und Zuhörer hinaus, die sehr intim ist. Niemand kann einem sagen, wie man dieses oder jenes in der »richtigen« Weise hört. Letztlich kommt es nur auf das Herz und das eigene Empfinden an und diese Reaktion ist unmittelbar spürbar. Es ist die Verbindung zwischen zwei Menschen: einem, der zuhört, und einem, der ein genialer Komponist ist.

Schostakowitsch war 1950 in Leipzig und wirkte als Juror beim erstmals ausgetragenen Bach-Wettbewerb mit. Danach schrieb er mit den 24 Präludien und Fugen op. 87 in Anlehnung an Bachs Wohltemperiertes Klavier ein zyklisches Hauptwerk des 20. Jahrhunderts. Welchen Einfluss hatte Bach auf Schostakowitsch?

Die Bach-Feierlichkeiten 1950 und das Beethoven-Jubiläum 1970 wurden von der sowjetischen Kulturpolitik ausgiebig gewürdigt, schließlich verstand man die DDR als sozialistischen Bruderstaat. Man schickte prominente Künstler in die DDR, da durfte Schostakowitsch natürlich nicht fehlen. Aber sicher hat Schostakowitsch Bach sehr verehrt – der Leipziger Thomaskantor war für ihn zweifelsohne eines der großen Genies der Musikgeschichte. Aus sozialistischer Perspektive interessierte man sich allerdings weniger für den religiösen Hintergrund von Bachs Werken, sondern sah in ihm vor allem den Meister der Polyphonie, des Kontrapunkts und der Fuge. Vermutlich haben auch Schostakowitsch in erster Linie diese technischen, mitunter gar »mathematischen« Aspekte fasziniert. Wir wissen ja, dass Schostakowitsch einen ausgeprägten Sinn, fast schon einen Tick für Präzision hatte und in seinem Umfeld sämtliche Uhren gern ganz genau auf die gleiche Uhrzeit einstellte. Die musikalischen Kathedralen Bachs in ihrer vollendeten Architektur – das hat ihn mit Sicherheit beeindruckt. Bemerkenswert finde ich zudem, dass er die Idee einer kompositorischen Chiffre für seinen eigenen Namen, D-Es-C-H, von Bach übernahm, der sein Personalmotiv B-A-C-H ebenfalls in vielen Werken versteckte.

Sie sind wahrscheinlich der erste Dirigent, der nahezu alle großen Orchesterwerke Schostakowitschs in einem so kurzen Zeitraum dirigiert. Mit welchen Gefühlen stehen Sie dieser Aufgabe gegenüber?

Zunächst einmal bin ich unglaublich dankbar, dass wir das Festival in dieser Form auf die Beine stellen und sogar zwei szenische Aufführungen der Lady Macbeth an der Oper Leipzig miteinbeziehen konnten. Ich habe aber auch großen Respekt vor dieser Aufgabe, weil ich die Musik Schostakowitschs aus tiefstem Herzen liebe. Vieles habe ich in den letzten Jahren häufig dirigiert, etwa in Zusammenhang mit den Aufnahmen in Boston, und ich bin gespannt darauf, wie es sein wird, wenn ich mir die Partituren jetzt wieder vornehme. Was hat sich in den letzten Jahren verändert, welche Dinge entdecke ich neu? Und welche emotionalen Reaktionen rufen sie bei mir hervor – in einer Situation, in der die Welt in großem Aufruhr ist? All dies möchte ich mit meinen Orchestern und mit unserem Publikum teilen, mit ihnen genießen und ebenso trauern. Weil ich glaube, dass es Momente geben wird, in denen die Tränen größer sein werden als je zuvor.

Was würden Sie einem Menschen sagen, der noch nie eine Note von Schostakowitsch gehört hat – was ist so besonders an diesem Komponisten?

Schostakowitsch ist ein Phänomen: Es gibt bei ihm nicht eine überflüssige, nicht eine langweilige oder sinnlose Note – sei es in Werken für Klavier, Violine, Violoncello, in den Quartetten, Liedern, Sinfonien, Balletten oder Opern. Sogar seine Filmmusiken zeigen diese Meisterschaft, trotz mitunter zweifelhafter Qualität der Filme. Emotional deckt Schostakowitsch die ganze Palette ab. Was er schrieb, steckt voller Humor, Ironie, Sarkasmus und Groteske, aber auch Trauer, Depression, Dunkelheit, Hoffnungslosigkeit – und voller Hoffnung. Ich würde sagen, seine Musiksprache hat immer eine Atmosphäre, die einen sofort berührt, die unsere Aufmerksamkeit weckt, so dass man hören möchte, wie es weitergeht. In seiner Vielseitigkeit ist Schostakowitsch, der für nahezu jedes Genre komponierte, vielleicht nur mit Mozart zu vergleichen. Deshalb denke ich, wenn jemand Interesse an der Klassik verspürt – warum sollte man die Reise nicht mit Schostakowitsch beginnen? Er war ein Mensch im besten Sinne des Wortes. Er hatte seine Stärken und Schwächen, war verständnisvoll, humorvoll, charmant und gleichzeitig nervös. Er war ein guter Mensch und das spürt man in seiner Musik. In jeder Note.

(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Gewandhauses)
> mehr Infomationen zum Schostakowitsch Festival Leipzig 2025
 

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