Expand
  • Besuche uns bei Facebook
  • Folge uns auf Twitter
  • Folge uns auf Instagram
  • Videos schauen in unserem YouTube-Kanal
  • Musik hören auf Spotify
  • Noten digital auf nkoda
Orchesterbesetzung

solo pft(MIDI grand); 3(III=picc).2.corA.2.bcl.2.dbn-4.3.3.1-timp.perc(5/6):xyl/marimba/vib/crot/glsp/gongs(different sizes)/6cym(different sizes)/3tam-t(different sizes)/2SD(snares on & snares off)/BD/t.bells/tom-t(lo)/wdbl(lo)/maracas/TD(snares off)/bell tree-harp-synth(Yamaha SY77 or SY99 with expander & 'Synthworks' software)-computer(Macintosh with 'Max' software)-4-channel tape with 4loudspeakers,mixing desk-strings(14.12.10.8.6)

Abkürzungsverzeichnis (PDF)

Verlag:

Boosey & Hawkes

Vertriebsgebiet
Dieses Werk ist erhältlich bei Boosey & Hawkes in der ganzen Welt.

Verfügbarkeit

Uraufführung
11/06/1993
Philharmonie, Köln
Pi-hsien Chen, piano / Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester / Hans Zender
Anmerkungen des Komponisten

I
Die letzte Schlussfolgerung der Vernunft ist, dass sie einsieht, dass es eine Unzahl von Dingen gibt, die ihr Fassungsvermögen übersteigen: sie ist nur schwach, wenn sie nicht bis zu dieser Einsicht gelangt. (Fragment 219)

Mit diesen und ähnlichen Gedanken, die der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal (1623–1662) in den rund 400 Fragmenten seiner Pensées formulierte, gibt er eine klare Antwort auf jene Fragen, die das Erkenntnisvermögen der menschlichen Vernunft betreffen, Fragen, die sich besonders angesichts sogenannter "Grenzerfahrungen" einstellen. Eine solche Grenzerfahrung ist der Tod eines Menschen, der einem nahe stand. Wohin geht er, woher kam er? Laut Wittgenstein sinnlose, weil nicht mit Mitteln der Vernunft zu beantwortende Fragen. Dennoch: Sie sind real wie die Gefühle von Trauer, Schmerz und Leere, die von der unmittelbaren Erfahrung des Todes ausgelöst werden. Diese inneren Realitäten, so subjektiv sie auch sein mögen, zum Ausdruck bringen zu können, dazu ist die Musik die emotionalste und zugleich transzendenteste aller Künste, in besonderem Maße prädestiniert.

Sie entwickelte bereits früh einen formalen Rahmen für die Totenfeier: das lateinische Requiem mit seinem mehr oder minder kanonisierten Einzelteilen von "Requiem" bis zum "Lux aeterna". Dieser Kirchentext, der im Wesentlichen vom höchsten Gericht, Verdammnis und Erlösung spricht, hat für mich keinen glaubhaften Aussagewert mehr. So bedurfte meine Entscheidung, ihn gar nicht, auch nicht bruchstückweise zu zitieren, sondern mich ausschließlich instrumentär mit ihm auseinanderzusetzen, keiner langen Überlegung. Welche Rolle spielt also der Text in meinem Stück? Da ich sie wahrlich nicht besser formulieren kann, bediene ich mich der Antwort, die Ernst Bloch im Prinzip Hoffnung gegeben hat: "...der Kirchentext, der aus den Frühzeiten chiliastischer Angst und Sehnsucht entsprungene, gibt der Musik seine großen Archetypen heraus, unabhängig von den vergänglichen patristischen Formen. Also bringt die Musik selber die im Requiem wirkenden Symbole der Erwartung wieder hervor; sie sind ihr eingeschrieben."

Diese Archetypen haben mich interessiert, und ich habe mir diejenigen aus dem Text herausgeholt, die mich menschlich und künstlerisch angesprochen haben. Bisweilen stellten sich bizarre Assoziationen ein: Während der Beschäftigung mit dem "Rex tremendae" hatte ich z. B. ständig die groteske Darstellung des auf einem Stachel kreisenden Ubu imperator von Max Ernst vor meinem inneren Auge. Ich halte es aber für wichtig, alle Textstellen anzugeben, auf die ich mich in meinem Stück bezogen bzw. nicht bezogen habe, noch für hilfreich, meine persönliche Interpretation der in ihnen enthaltenen Archetypen darzulegen. Denn ich will und habe immer gewollt, dass meine Werke aus sich selbst heraus sprechen und überzeugen und nicht als klingende Kommentare zu ihren verbalen Erläuterungen verstanden werden. Das mag unzeitgemäß erscheinen in einer Gegenwart des für allmächtig gehaltenen Wortes, das dem Kunstwerk (im Zeichen einer falsch verstandenen "Aufklärung") auch die letzten Reste an Zauber, Dämonie und Geheimnis zu entreißen, wenn nicht gar lächerlich zu machen versucht, statt sich diesen Bereichen behutsam zu nähern. Ich behaupte: Ein Kunstwerk ist um den Preis ein Kunstwerk, als es ein Geheimnis hat, ein Moment des Unbegreiflichen, dessen sich nicht einmal sein Autor notwendigerweise selbst bewusst sein muss.

II
Die Rechenmaschine zeigt Wirkungen, die dem Denken näher kommen als alles, was die Tiere vollbringen, aber keine, von denen man sagen muss, dass sie Willen haben wie die Tiere. (Fragment 117)

Diese Bemerkung (ein kräftiger Seitenhieb auf Descartes und seine mechanistischen Anschauungen) zeigt, dass Pascal, der die erste Rechenmaschine erfand und damit als Ahnvater des Computers gelten kann, ein klares Bewusstsein vom Unterschied zwischen den Automaten und dem Leben hatte, ein Bewusstsein, das im sogenannten "Computerzeitalter" und in der Diskussion um "künstliche Intelligenz" bisweilen getrübt erscheint. Auch in Pensées spielt der Computer eine wichtige Rolle. Denn es handelt sich hier nicht um ein Klavierkonzert im herkömmlichen Sinne, sondern um ein Werk, in dem das Solo-Klavier – wenn auch als "primus inter pares" – eine durchaus neuartige Funktion übernimmt: Es erweitert das Klangspektrum des seit langem mehr oder minder standardisierten Orchesterapparats auf charakteristische Weise. Wir haben es hier nämlich nicht mit einem normalen Konzertflügel, sondern mit einem so genannten "Midi-Flügel" zu tun. Dieser ist mit speziellen Sensoren ausgestattet, die die gespielte Tonhöhe und den Tastendruck (Anschlag) an einen digitalen Synthesizer weitergeben und diesen steuern. Auf diese Weise verbindet sich der Klavierklang mit den digital erzeugten Klängen, wobei einerseits der natürliche Reichtum des Klavierklangs und die Nuancen pianistischer Spielkultur gewahrt bleiben, andererseits die klanglichen Grenzen des Instruments bedeutend erweitert werden.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass bei solchen Prozessen der elektronischen Anreicherung oder Transformation von Instrumentalklängen, wie überhaupt bei der Realisation elektronischer Werke, eine große Gefahr lauert: Sie besteht darin, dass sich der Komponist angesichts der – ich kann es nicht anders nennen – "Inflation" an Klangfarben, die uns die heutigen Synthesizer und Sampler zur Verfügung stellen, zu einem "Zuviel" verleiten lässt, zu einer klanglichen Buntscheckigkeit, die nichts mit differenzierter Organisation von Farben zu tun hat und mir ästhetisch bedenklich erscheint.

Deshalb bin ich folgendermaßen vorgegangen: Nach einer Einarbeitungsphase in ein entsprechendes Programm, habe ich zunächst mit dem Computer ein Repertoire von Klängen zusammengestellt, die in ihrer Charakteristik eine gewisse Affinität zum Klavierklang haben. Das ist bei den Klängen von Zupfinstrumenten, bestimmten Schlagzeug- und glockenartigen Klängen zum Beispiel der Fall. Aus diesem Repertoire habe ich nach rein gehörsmäßig-musikalischen Kriterien – unter Verzicht auf pseudowissenschaftliche Methodik – etwa 25 Klänge ausgewählt und diese am Computer so lange bearbeitet, bis sie meiner Vorstellung in Bezug auf den musikalischen Gesamtkontext entsprachen. Dass diese 25 Klänge nur noch wenig von ihrem "Rohzustand" erkennen lassen, versteht sich von selbst. Die sind jetzt unverwechselbare Chiffren im Gesamtzusammenhang meiner Komposition Pensées.

Bilden die elektronischen stets eine Einheit mit den Klängen des Klaviers im Kontrapunkt zu denen des Orchesters, so treten sie in einer ausgedehnten "Kadenz" selbst in ein Wechselspiel mit dem Klavier. Hier löst der Pianist – unter Verzicht auf jede äußerliche Virtuosität – durch bestimmte vom Computer "erkannte" Töne oder Tonfolgen selbständige Synthesizer-Strukturen aus. Diese zum Teil recht komplexen Klangmomente wurden zwar vorher im Computer (vom Typ Macintosh) gespeichert, hängen aber hinsichtlich Eintritt, Beendigung und Dynamik ganz vom Spiel des Pianisten ab. Manchmal verhält es sich aber auch umgekehrt: Der Pianist reagiert auf Impulse, die vom Computer ausgehen. Kurzum: Es entsteht eine Art "Dialog" zwischen Mensch und Maschine.

Die Kadenz mündet in den Schlussteil und damit in eine neue Dimension des Werkes: Der Raum öffnet sich, unbekannte Klänge wandern, schweben, gleiten leise durch ihn hindurch, bewegen sich nur selten in Erdnähe, entfernen sich aber auch nicht in die Anonymität des menschenleeren Kosmos. Fremdartige Glockenklänge erinnern an frühere Phasen unseres Bewusstseins. Gleichzeitig wird das klangliche "Innenleben" des Soloinstruments erfahrbar, das während des ganzen Stückes das Geschehen entscheidend mitgestaltet hat, nun aber zurücktritt und nur noch eine vermittelnde Funktion im Kontrapunkt zwischen Orchester und einem vorproduzierten 4-Kanal-Tonband einnimmt. Bestandteile dieses "Innenlebens", wie die Klänge von gezupften oder gestrichenen Saiten, Schlägen auf den Rahmen etc., wurden im Studiocomputer vom Typ "Fairlight" gesampelt und auf manigfache Weise bearbeitet: gedehnt. gefiltert, verräumlicht, montiert. – Es ist vielleicht nicht überflüssig darauf hinzuweisen, dass diese Prozesse mit den heutigen Mitteln ebenso wenig "live", das heißt direkt im Konzertsaal zu verwirklichen wären, wie – um einen Vergleich zu wählen – etwa die minutiöse Ausarbeitung eines gestaltenreichen Bildes.

Um einen Eindruck von der Langwierigkeit und Schwierigkeit elektronischer Klangproduktion zu vermitteln, möchte ich erwähnen, dass sie Realisation aller elektronischen Komponenten von Pensées etwa sechs Monate in Anspruch nahm und ohne die Hilfe meiner Mitarbeiter Paulo Chagas, Volker Müller und Gertud Melcher nicht möglich gewesen wäre.

III
Man überzeugt sich im Allgemeinen besser durch Gründe, die man selbst gefunden hat, als durch die, die anderen eingefallen sind. (Fragment 22)

"Welches Muster verbinden den Krebs mit dem Hummer und die Orchidee mit der Primel und all diese vier mit mir? Und mich mit ihnen? … Niemals Quantitäten, immer Gestalten, Formen und Relationen." (Gregory Bateson, Geist und Natur)

Ich habe mich mit einen Kompositionen vorrangig immer um zwei Dinge bemüht: um die Erfindung möglichst plastischer Gestaltcharaktere und um formale Schlüssigkeit. Aus dieser Grundhaltung heraus habe ich bereits Mitte der sechziger Jahre vehemente Kritik am damals vorherrschenden Serialismus geübt und mich kompositorisch deutlich von ihm abgesetzt. Nach längerer Beschäftigung mit Gregorianik (als der Wurzel europäischer Musik schlechthin) und einigen Formen außereuropäischer Musik, habe ich gegen Ende der siebziger Jahre meine Konzeption der "Gestaltkomposition" entwickelt, die zwar den Kern des seriellen Denkens beinhaltet – das in Analogie zur modernen Physik erdachte musikalische Raum-Zeit-Kontinuum – sich aber in den ästhetischen Konsequenzen erheblich von diesem unterscheidet.

Musikalischer Ausgangspunkt meiner Konzeption ist die "Klanggestallt", im Falle von Pensées eine 24-tönige Melodie, deren Töne sich spiralförmig auseinander bewegen. (Sie wird gleich zu Beginn von Celli und Kontrabässen im pianissimo vorgetragen.) Diese Klanggestallt besteht aus vier Gliedern unterschiedlicher Länge, die gleichzeitig die vier Grundakkorde des Stückes ergeben: auch seine zeitlichen Proportionen sind aus ihr abgeleitet. Die ersten vier Töne habe ich dem Hauptthema der fünfstimmigen Tripelfuge in cis-Moll aus dem 1. Band des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach entnommen. Sie gehörte zu den Lieblingsstücken meiner langjährigen Lebensgefährtin, deren jäher Tod Anlass zur Komposition des Werkes gab und deren Andenken es gewidmet ist.

IV
Denn, was ist zum Schluss der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All. Unendlich entfernt von dem Begreifen der äußersten Grenzen, sind ihm das Ende aller Dinge und ihre Gründe undurchdringlich verborgen, unlösbares Geheimnis: er ist gleich unfähig, das Nichts zu fassen, aus dem er gehoben, wie das Unendlich, das ihn verschlingt. (Fragment 35)

Pressestimmen

"Ein Hauptgedanke der Komposition Pensées ist die Verräumlichung von Zeit. Die Idee realisiert Höller mittels einer fortgeschrittenen Elektronik... Was überraschte, waren die fluoreszierenden, gleichsam zentripetalen Wirkungen der reminiszierenden Verdichtung und überdies nebst einheitlichem Gestus eine melodische Qualität, der man für sich genommen geradezu bergsches Format bescheinigen könnte... Vom Publikum enthusiastisch und nachhaltig applaudiert, geriet Höllers ‘Requiem’ zum ergreifenden Höhepunkt eines denkwürdigen Abends." (Manfred Karallus, FAZ, 23.06.1993)

Themen
Empfohlene Aufnahme
cd_cover

Pi-hsien Chen / Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester / Hans Zender
Largo 5140

Links

Erfahren Sie immer das Neueste über unsere Komponist*innen und Notenausgaben