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„Ich möchte, dass Kunst eine heilige Handlung ist, eine Freisetzung von Kräften, der Austausch mit diesen Kräften. Ein Musiker sollte auch nicht Musik gestalten, sondern eher Momente der Offenbarung, Momente, in denen die Kräfte der Natur beschworen werden, Kräfte, die existierten, existieren und immer existieren werden, Kräfte, die Wahrheit sind.
—Claude Vivier

Eine Einführung in die Musik Claude Viviers
von Bob Gilmore

Die Musik des franco-kanadischen Komponisten Claude Vivier (1948–1983) ist in einem zwischen Realität und Imagination gelegenen Zwischenreich angesiedelt, einer Welt, in der die Menschen sich eher in erfundenen Sprachen ausdrücken als in real existierenden. Sie folgen der Verlockung entfernter Städte und begeben sich auf Reisen, die oft nur symbolisch sind und für die Suche nach Liebe oder Freundschaft stehen. Wie ein Schatten liegt die Allgegenwart des Todes über ihnen – ihm kommt in Viviers Werk die Rolle des Herrschers über alles Übrige zu. Dies sind die Themen, die sich wie ein Leitfaden durch seine größten Werke, die Oper Kopernikus und die geplante „Opéra-fleuve“ Marco Polo, sowie auch durch viele kleinere ziehen. Von tieferer Bedeutung in Viviers Kompositionen ist als am häufigsten wiederkehrendes Thema jedoch die Person des Komponisten selbst: fast alle seine Werke sind im Wesentlichen autobiografisch. Getrieben wurde Vivier einerseits von dem Bedürfnis, Zugang zu einer inneren Welt zu erlangen, die Zuflucht vor Einsamkeit, Dunkelheit und Angst bietet, andererseits von seiner Auseinandersetzung mit Gott sowie dem unstillbaren Verlangen nach Akzeptanz und Liebe.

Vivier wurde in Montréal geboren; die Identität seiner Eltern blieb unbekannt. Im Alter von zwei Jahren wurde er von der Familie Vivier adoptiert und in einem Arbeiter-Viertel der Stadt großgezogen. Ab seinem dreizehnten Lebensjahr besuchte er zwei Internate der Maristenbrüder, einem katholischen Orden, der Schüler auf ein Leben als Priester vorbereitete. Hier entdeckte der junge Claude, der eine viel versprechende schulische Begabung zeigte, in einem offenbarungsartigen Augenblick beim Singen in einer Mitternachtsmesse die Musik für sich. Sehr bald schon wandte er sich der Musik des 20. Jahrhunderts zu. Dies belegen zwei an Bartók erinnernde Orgelstücke, die aus seinem jugendlichen Schaffen erhalten geblieben sind. Zu seiner eigenen Enttäuschung wurde ihm im Alter von 18 Jahren jedoch nahegelegt, das Priesterseminar zu verlassen – seine Lehrer waren der Meinung, er verfüge über ein zu empfindliches und leicht reizbares Temperament für einen religiösen Beruf. Er wandte sich der Musik zu und schuf während seines ersten Studienjahres am Conservatoire de Musique du Québec in Montréal unter Gilles Tremblay sein Opus 1, das Quatuor à cordes.

Die frühesten Werke in Viviers Katalog zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Avantgarde-Techniken der 60er Jahre. Hiérophanie stellt einen überschwänglichen Vorstoß auf das Gebiet instrumentalen Musiktheaters dar, während Musik für das Ende ein vergleichsweise nüchterner Gesangsritus ist, der von dem Selbstmord eines befreundeten Bühnenautors inspiriert wurde. Die Jahre von 1971–74 verbrachte Vivier in Europa, wo er ein Jahr lang elektronische Musik am Institute of Sonology in Utrecht und dann Komposition unter Karlheinz Stockhausen an der Hochschule für Musik in Köln studierte. Die Begegnung mit Stockhausen prägte ihn nachhaltig. Unter seinem Einfluss erfuhr Vivier, was er selbst als eine musikalische Wiedergeburt bezeichnete, und schuf ein Werk, das „den wahren Beginn meines Lebens als Komponist“ markierte: Chants, für sieben Frauenstimmen, ist eine Art Requiem, in dem katholische Feierlichkeit und kindliche Lebensfreude sich in einem wunderbar individuellen Ausdruck miteinander mischen. Das rigoros post-serielle Désintégration für zwei Klaviere und sechs Streicher wurde 1974 in Darmstadt aufgeführt. Gegen Ende seiner Studienzeit in Europa schrieb er Lettura di Dante, ein avantgardistisches Konzertwerk für Ensemble mit einer Solo-Sopranistin, die erst gegen Ende erscheint, um einer ekstatischen religiösen Vision ihre Stimme zu verleihen.

Im Sommer 1974 kehrte Vivier in seine Geburtsstadt Montréal zurück, wo er sich in der Folgezeit einen Namen machte. Die von Serge Garant geleitete Société de musique contemporaine du Québec (SMCQ) brachte Lettura di Dante und Liebesgedichte zur Uraufführung – letztere, geschrieben für vier Stimmen und Ensemble, stellen eine ausgedehnte Erkundung der zahlreichen Aspekte der Liebe dar. Sein Orchesterwerk Siddhartha dagegen wurde als zu schwierig für das National Youth Orchestra of Canada, welches das Stück in Auftrag gegeben hatte, eingestuft; es ist Teil der schmerzlich langen Liste von Werken, die Vivier zu seinen Lebzeiten nicht zu hören bekommen sollte. Diese brillant erdachte Partitur für in acht Gruppen aufgeteiltes großes Orchester zeigt, wie Vivier sich von seinen europäischen Einflüssen befreit und über ein Liebäugeln mit nicht-westlichen Einflüssen zu einem individuellen Stil findet. Das Gleiche gilt für Learning für vier Violinen und Schlagwerk – das am unverhohlensten ‚ritualistische‘ seiner Werke, in dem die Geiger unter der Anleitung eines geheimnisvollen Lehrers die Kunst der Melodie zu studieren scheinen.

Im Herbst 1976 trat Vivier eine Reise in den Fernen Osten an, um sich jeweils über einen längeren Zeitraum dem Studium der Musikkulturen Japans, Balis und Thailands zu widmen. Von diesen Aufenthalten waren es die in Bali verbrachten Wochen, die den nachhaltigsten Einfluss auf Vivier haben sollten. Ihn beeindruckten sowohl die Techniken, die er durch sein Studium der balinesischen Musik erlernte, wie auch die Rolle, die Musik in der balinesischen Gesellschaft spielte. Man hört diesen Einfluss am besten in dem für ein variables Ensemble geschriebenen Pulau Dewata, dessen metrische Rhythmen und reizvolle Melodien eine Vielzahl von Choreographen inspiriert haben. Eine noch umfassendere Verarbeitung des balinesischen Einflusses zeigt sich in dem großartigen Chorwerk Journal — ursprünglich während Viviers Asienreise als eine Art musikalischer Reisebericht konzipiert, entwickelte es sich schließlich zu einer vierteiligen Erkundung der typischen Themen jener noch größeren Reise des Lebens: Kindheit, Liebe, Tod, und die Frage nach einem Leben nach dem Tod. In den darauf folgenden Jahren schrieb Vivier eine Reihe bemerkenswerter Instrumentalstücke: das virtuose Klaviersolo Shiraz, gänzlich für sich stehende Kammerwerke wie Paramirabo und Greeting Music sowie, für das Montréal Symphony Orchestra, die Konzertouvertüre Orion. Er beschloss die 70er Jahre mit seiner Kammeroper Kopernikus, einer faszinierenden Allegorie, in der eine Frau auf einer Reise in die nächste Welt dem großen Astronomen der Renaissance sowie verschiedenen anderen historischen Figuren inmitten einer Lewis Carroll-artigen Szenerie begegnet, wo nichts so ist, wie es scheint.

1979–80 verbrachte Vivier einen Kurzaufenthalt in Europa, bei dem er mit der Musique spectrale seiner Freunde Gérard Grisey and Tristan Murail konfrontiert wurde. Diese übte einen nachhaltigen Einfluss auf sein Denken sowie auf die Musik aus, die er während der wenigen verbleibenden Zeit seines Lebens noch erschaffen sollte. Zu hören ist dieser Einfluss zum ersten Mal in dem für Sopran und Orchester geschriebenen Lonely Child. An erster Stelle steht hier die Konzentration auf die Melodie. Diese erzeugt in Kombination mit der Basslinie ihre eigenen mikrotonalen Harmonien, präzise kalkulierte Klänge, von Vivier selbst „les couleurs“ genannt. Diese Elemente verbinden sich zu einer Musik von außergewöhnlicher Eindringlichkeit, der individuellsten und zugleich autobiographischsten seiner Kompositionen.

Auch in den nachfolgenden Werken ist die Stimme beherrschend. Der majestätische vokal-instrumentale Prologue pour un Marco Polo verwendet fünf Stimmen und ein hell klingendes Ensemble aus Klarinetten, Schlagzeug und Streichern. Es existieren drei weitere für Frauenstimme und Ensemble geschriebene Werke: Bouchara, ein Liebeslied und eine seiner schönsten Partituren; das politisch aufgeladene Wo bist du Licht!; und die emotional intensiven Trois Airs pour un opéra imaginaire, sein vorletztes Werk, und eines, das andeutet, welche Richtung seine weitere musikalische Entwicklung hätte nehmen können. Viele dieser späteren Werke waren als Teile der Oper zum Thema Marco Polo angedacht, welche er zum Zeitpunkt seines Todes in Planung hatte.

Im Sommer 1982 ging Vivier im Auftrag des Canada Council nach Paris, um dort eine Oper über den Tod Tschaikowskys zu komponieren. In der Nacht vom 7. auf den 8. März wurde er im Alter von 34 Jahren von einem jungen Pariser Kriminellen in seiner Wohnung ermordet. Auf seinem Schreibtisch fand man das Manuskript eines unvollendeten letzten Werkes, Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele für Gesang, Sprechstimmen und kleines Ensemble, auf einen Text aus Viviers eigener Feder. In diesem berichtet ein Erzähler (namens „Claude“) von der machtvollen Anziehung durch einen jungen Mann, dem er zufällig in der Metro begegnet; nach dem Austausch einiger Floskeln zieht der junge Mann ein Messer und stößt es tief in sein Herz. An diesem Punkt endet das Manuskript. Einige der Freunde des Komponisten sahen in dieser in höchstem Maße verstörenden Deckungsgleichheit von Leben und Kunst den Schlüssel zu Viviers gesamter Persönlichkeit: gemäß dieser Perspektive war Vivier ein Mann, der gefährlich lebte, ein Mann mit einem Todestrieb, der nun, da er das „Selbst“ in seiner letzten Komposition getötet hatte, keinen Grund mehr zum Leben besaß. Andere sehen die Übereinstimmung als einen verblüffenden, aber letztlich bedeutungslosen Zufall an und Glaubst du… als eine weitere unwiderstehliche Schöpfung eines vom Tod besessenen jungen Künstlers, dem die Jahre des Schaffens, die noch vor ihm gelegen hätten, auf grausame Weise versagt blieben. Was immer die Wahrheit über Viviers Leben sein mag, die Ausdrucksstärke seiner Musik zusammen mit seiner kompositorischen Fertigkeit und Innovationskraft machen sein Lebenswerk zu einem der faszinierendsten und unverwechselbarsten des späten 20. Jahrhunderts.

© Bob Gilmore
Text reproduced by permission of the author.

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