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Eine Einführung in die Musik Carters
von Jonathan Bernard

Jeder Komponist, dessen Berufsleben sich über sieben Jahrzehnte erstreckt – und nach wie vor andauert – hat bereits ein gewisses Stehvermögen bewiesen. Doch gibt es weitaus zwingendere Gründe als bloße Langlebigkeit, um Elliott Carter als den bedeutendsten aller lebenden amerikanischen Komponisten zu betrachten, und als einen der führenden Komponisten der Welt. Sein Name ist zum Synonym für Musik geworden, die zugleich strukturell beeindruckend, vom Ausdruck her ungewöhnlich und von verblüffender Virtuosität ist: Musik, die vom Hörer wie vom Interpreten viel verlangt, aber im Gegenzug noch viel mehr gibt.

Carter, der Sohn wohlhabender New Yorker Eltern, wurde dazu erzogen, die schönen Künste zu schätzen, aber nicht unbedingt, sie sich zur Lebensaufgabe zu machen. Als er beschloß, Komponist zu werden, geschah dies gegen den erklärten Wunsch seiner Familie. Wie viele angehende Komponisten seiner Generation ging Carter nach seiner College-Ausbildung nach Paris, um bei Nadia Boulanger zu studieren, eine Erfahrung, die seinen Werken vorübergehend einen konservativ neoklassizistischen Stil verlieh. Letztlich jedoch erwies sich der modernistische Einfluß, dem er als Heranwachsender ausgesetzt war – insbesondere durch den Kontakt mit Ives und Varèse -, als durchschlagender: Angefangen mit einem ersten Anflug von Veränderung in den späten vierziger Jahren und fortgeführt in den fünfziger Jahren erfand Carter eine harmonische und rhythmische Sprache, die ganz die seine ist, eine Sprache, die entschieden den herrschenden Vorkriegsgeschmack verwarf, sich aber auch von der (damals) aufkommenden seriellen Musik der Nachkriegszeit distanzierte. Und ironischerweise war es Carters widerspenstiges Beharren, seinen eigenen Weg zu gehen, das ihn international bekanntmachte. Die Konsequenzen seiner neuen Sprache kamen manchmal nur langsam zum Tragen – Carter verbrachte die sechziger Jahre überwiegend mit der Arbeit an nur zwei Stücken -, aber sie erbrachten ungeheuer wirkungsvolle Musik und am Ende auch eine zugleich geläufige und flexible Technik. Das bezeugen die wachsende Zahl und Vielfalt seiner Kompositionen seit den siebziger Jahren.

In einer von Vereinfachungen bestimmten musikalischen Ära ist es paradoxerweise ihre Komplexität, die Carters Musik zunehmend attraktiv gemacht hat: Sie vermittelt oft das Gefühl, daß gleichzeitig viele verschiedene Dinge vorgehen, ruft neben überaus geschmeidiger Kontinuität die heftigsten Kontraste hervor und bietet nicht Flucht vor den Anforderungen des modernen Daseins, sondern sinnvolle Auseinandersetzung mit ihnen. Vor allem Carters Bemühen, "Charakter" und "Verhalten" darzustellen, gibt seinem Schaffen einen eindeutig humanen Aspekt; daß die kollektiven Bedürfnisse seiner Musik am Ende nicht die individuelle Stimme verdrängen können, ist für den Hörer eine Quelle tiefer Anteilnahme und Befriedigung.

Während der letzten zwölf Jahre war Carter produktiver denn je. In diesem Zeitraum hat er mehr Stücke von relativ bescheidenem Umfang geschaffen, zum Beispiel Esprit rude/Esprit doux, die Enchanted Preludes und eine Reihe von Solowerken, als je zuvor seit Beginn seiner Laufbahn. An der Zahl der Aufführungen gemessen, die ihnen zuteil geworden sind, haben sich diese Werke als weithin ansprechend erwiesen – aber das gilt in gleichem Maße für die umfangreicheren Werke aus demselben Zeitraum, darunter zwei Konzerte und ein viertes Streichquartett. Carter ist zu einer Arbeitsweise gelangt, die in gewisser Hinsicht definitiv ist, die Summe alles Vorangegangenen – oder, wie es einige genannt haben, ein "neuer Klassizismus". Zu den Besonderheiten dieser Methode zählen eine gewisse strukturelle und formale Direktheit, und sie teilt sich in Gefügen mit, die in ihrer Klarheit fast schon als transparent zu bezeichnen sind. Dabei signalisiert der Glanz dieses späten Stils, wie das erstaunliche Quintet für Klavier und Bläser aufzeigt, keinerlei Nachlassen an schierer Energie. Auch nachdem er seinen 85. Geburtstag und die Uraufführung seiner bemerkenswerten neuen Partita durch die Chicago Symphony hinter sich hat, befindet sich Carters Kreativkraft auf dem Höhepunkt der Vitalität; man kann damit rechnen in den kommenden Jahren noch viel von diesem Giganten der zeitgenössischen Musik zu hören.

Jonathan Bernard, 1994
(Professor für Musik an der Universität Washington; veröffentlichte umfangreiche Beiträge zur Theorie und Analyse der Musik des 20, Jahrhunderts.)

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