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Geboren wurde Jaromír Weinberger – mit seiner Zwillingsschwester Božena – im böhmischen Teil der Donaumonarchie: im Prager Vorort Královské Vinohrady, den die deutschsprachigen Böhmen „Königliche Weinberge“ nannten. Jaromír hieß aber nicht Vinohradský, sondern Weinberger – dennoch war er Tscheche durch und durch – und Jude. Der deutsche Nachname führte einerseits zu Missverständnissen bei Tschechen, und andererseits waren die meisten jüdischen Prager Künstler und Intellektuellen von Hause aus deutschsprachig. Zwischen den Stühlen saß er auch als Musiker, für den volkstümliche Unmittelbarkeit in Melodie und Rhythmus ebenso wichtig war wie anspruchsvolle kompositorische Faktur.

Er war ein hochbegabtes Kind aus eher kleinen Verhältnissen, wurde aber von seinem Elternhaus entschieden gefördert. Der kleine Jaromír war ein Wunderkind, das auch Stücke schrieb, die sogar gedruckt wurden. Komponieren lernte er bei Vitezslav Novák, einem Schüler Antonín Dvoráks; der renommierte Karel Hoffmeister war sein Klavierlehrer am Prager Konservatorium. Nachdem er dort seinen Abschluss gemacht hatte, konnte Weinberger noch einige Monate bis zu dessen Tod bei Max Reger in Leipzig studieren, der ihn wegen seines „tollen Klangsinns“ schätzte.

Der kleine, hellblonde, schmächtige junge Mann wurde durch einen kunstsinnigen Protektor vor dem Militärdienst im Ersten Weltkrieg bewahrt. Für Inszenierungen des Prager tschechischen Nationaltheaters und des städtischen Prager Theaters in den Weinbergen schrieb er Bühnenmusiken und ging dann schon 1922 ein erstes Mal als Kompositionslehrer in die USA, an das Konservatorium der kleinen Stadt Ithaca im Bundesstaat New York. Nach einem Jahr kam er aber bereits in die Tschechoslowakei zurück, weil das Leben dort doch eher seinem Naturell entsprach als im ökonomisierten unromantischen Amerika.

Kurze Zeit arbeitete er in seinem nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen neuen Heimatland für das slowakische Nationaltheater in Bratislava und an der Musikschule im überwiegend deutschsprachigen Eger (Cheb). Dass er sich dann für die riskante Existenz als freiberuflicher Komponist entschied, sollte ihm reich belohnt werden: Zusammen mit dem Librettisten Miloš Kareš arbeitete er an der Oper Švanda dudák über Švanda, den legendären Dudelsackspieler aus dem böhmischen Strakonice, wo noch heute ein Internationales Dudelsack-Festival stattfindet. Die Uraufführung am Prager Nationaltheater im April 1927 fand zwar Anerkennung, zog aber keine weiteren Kreise. Denn man stritt auch jetzt noch darüber, was die wahre tschechische Musik sei, die von Smetana oder die von Dvorák. Und ein Jude mit deutschem Nachnamen hatte da keine guten Karten, denn auch der Antisemitismus hatte die k.u.k.-Zeit überlebt. Aber auch hier half Max Brod (1884–1968), der vielseitige jüdische Prager Künstler und Intellektuelle, der eine deutsche Übersetzung der Oper schuf – tschechisch gesungen wurde damals nur an den tschechischen Bühnen der mehrsprachigen Tschechoslowakei. 1928 wurde Švanda dann erstmals auf deutsch in Breslau gespielt, und als Schwanda, der Dudelsackpfeifer ging das Werk dann um die Welt. Nicht nur über die deutschsprachigen Bühnen, wo es in der Saison 1929/30 noch vor Carmen und der Zauberflöte, der Fledermaus und den Wagneropern der bei weitem meistgespielte Titel war! Auch New York und London lernten die Oper in ihrer deutschen Fassung kennen. Švanda dudák war ein Kassenschlager, und Jaromír Weinberger, wohlhabend und berühmt, hatte er doch eine „Volksoper“ geschrieben, die auch das anspruchsvolle Publikum schätzte.

Seine Komposition Vánoce/Weihnachten für großes Orchester und Orgel (1929) wurde ähnlich populär und besonders in der Tschechoslowakei, auf deren weihnachtliche Tradition sich die Partitur beruft, oft aufgeführt und gesendet. Erich Kleiber, der die Berliner Schwanda-Premiere geleitet hatte, brachte im Oktober 1931 mit dem New York Philharmonic Orchestra in der Carnegie Hall die Passacaglia zur Uraufführung: für Orchester und Orgel. Dieses Instrument fand immer noch Weinbergers besonderes Interesse, seit die Orgel in der Synagoge nahe dem Elternhaus den musikalischen Knaben beeindruckt hatte.

Hans Knappertsbusch dirigierte im gleichen Jahr in München die Uraufführung von Weinbergers nächster Oper Milovaný hlas (Die geliebte Stimme). Und im Januar 1933 wurde im Berliner Admiralspalast die Operette Frühlingsstürme von Jaromír Weinberger aus der Taufe gehoben. Auf dem Besetzungszettel standen Jarmila Novotná, eine in der Tschechoslowakei wie in Deutschland sehr beliebte Opernsängerin und Filmdiva, und der große Tenor Richard Tauber. Die Schellackplatten mit den schönsten Nummern waren schon zur Premiere zu haben gewesen, und Klavierauszüge, Text- und Regiebücher gedruckt, um die Frühlingsstürme im großen Stil zu „vermarkten“. Aber daraus wurde nichts, da wenige Tage später die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen, und die Operette nicht nur wegen ihres jüdischen Komponisten nicht mehr gespielt werden konnte; auch der Librettist Gustav Beer war Jude – wie auch Richard Tauber und viele andere Mitwirkende der Berliner Premiere. (Es schlossen sich einige Aufführungen in der Tschechoslowakei an, sogar noch eine nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs; Partitur und Orchesterstimmen der Frühlingsstürme gelten aber seither als verschollen.) Drei weitere Operetten in tschechischer Sprache folgten in den Jahren nach 1933, in denen deutsche Bühnen, Konzertsäle und Sender für Weinberger verschlossen waren. Und bis auch Österreich den Nationalsozialisten anheimfiel, wo Weinberger in Baden bei Wien einen Wohnsitz hatte, kam es 1937 noch zur Uraufführung seiner Oper nach Schillers Wallenstein an der Wiener Oper.

Weinbergers Wallenstein wurde 1938 dann noch einmal als Valdštejn in Olomouc/Olmütz inszeniert, dann war auch die demokratische Tschechoslowakei von den Deutschen eliminiert worden, und es gab für den Komponisten und seine Frau nur noch den Weg in die Emigration – in die (ungeliebten) Vereinigten Staaten, in Südfrankreich waren sie schon, konnten dort aber nicht bleiben. Sie hatten sozusagen Glück im Unglück, indem sie gerade eine Einladung und Visa in die USA bekommen hatten, weil man auf der New Yorker Weltausstellung von 1939 Polka and Fugue from Schwanda the Bagpiper in Gegenwart des Komponisten als Ballett vorstellen wollte. Diese beiden Orchesterstücke aus der Oper waren auch in den USA ein höchst beliebtes (nicht selten Zugabe-)Werk geworden. Vor diesem Hintergrund entstanden dann auch die Variationen und Fuge auf die Melodie von Under the Spreading Chestnut Tree. Deren Uraufführung – unter John Barbirolli mit dem New York Philharmonic Orchestra in der Carnegie Hall – war der letzte große Publikumserfolg für den Exilkomponisten aus der Tschechoslowakei, die es da schon gar nicht mehr als Staat gab.

1948 erwarben die Weinbergers zwar die US-Staatsbürgerschaft, aus finanziellen Gründen konnten sie sich aber nicht so etablieren, wie sie es aus Europa gewohnt waren. Durch den Krieg war der Komponist nicht in den Genuss der Tantiemen aus Europa gekommen, die Wiener Universal-Edition hatte die Rechte an vielen seiner Werke kurz zuvor an Boosey & Hawkes verkauft. Er musste schließlich erfahren, dass die Nazis seine Mutter und seine vier Jahre ältere Schwester Beda ermordet hatten.

Nach mehreren Wohnsitzwechseln zogen Jaromír und Hansi (Jane) Weinberger erst nach Fleischmanns/NY, einer winzigen, aber vornehmen Sommerfrische, und dann nach St. Petersburg in Florida. Aber auch das kleine Haus in dieser „Sunshine City“ konnte nicht die alte Heimat ersetzen und die immer schwacher werdende Resonanz auf seine nun langsamer und mühsamer zustande kommenden Werke ausgleichen. Weinberger wurde immer depressiver, zog sich zurück und hörte mit dem Komponieren schließlich auf. Auch regelmäßige sommerliche Reisen nach Europa, wo man sich für eine Oper mit dem skurrilen Namen Schwanda, der Dudelsackpfeifer mittlerweile nicht mehr interessierte, boten nur vorübergehende Ablenkung.

71jährig setzte Jaromír Weinberger seinem Leben mit einer Überdosis Tabletten ein Ende, seine Frau starb ein Jahr später mit 65 Jahren. Der Sohn einer Kusine von Jaromír Weinberger, der als Musiker in Israel wirkte, kümmerte sich um den Nachlass. 2004 fanden Jaromír und Jane Weinberger ihre letzte Ruhestätte im Kibbutz Gezer zwischen Tel Aviv und Jerusalem.

© Christoph Schwandt, 2011

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