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Eine Einführung in die Musik Stravinskys
von Stephen Walsh

Igor Strawinsky hat sich, das steht am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wohl fest, als einer der zwei oder drei bedeutendsten Komponisten der Epoche erwiesen, und gewiß wird er als einer ihrer vielseitigsten in Erinnerung bleiben. Eine Betrachtung seines Schaffens berührt automatisch jede signifikante Tendenz in der Musik des Jahrhunderts, vom energischen Neonationalismus der frühen Ballette zum schrofferen experimentellen Nationalismus der Jahre des Ersten Weltkriegs, dem Neoklassizismus der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre und dem Studium alter Musik, das in den fünfziger Jahren Meisterwerke wie Agon und Canticum sacrum hervorbrachte und zu einer überaus persönlichen Umdeutung der seriellen Methode Schönbergs führte. Unterwegs kam Strawinsky in Kontakt mit allen möglichen Haupt- und Nebenströmungen, vom temperamentvollen Futurismus Italiens vor Mussolini bis hin zur populären Hollywood-Musik der vierziger Jahre und dem eigenwilligen Avantgardismus von Boulez und Stockhausen: Er nahm, und sei es in noch so verfremdeter, abgewandelter Form, von ihnen allen etwas an. Er mag ein Spiegel seiner Epoche gewesen sein, ließ sich von ihr aber nie seine Kompositionsweise vorschreiben. Ungeachtet aller Änderungen der "Manier", aller überraschungen und Lossagungen des wesensmäßigen Modernisten blieb er von Petruschka bis zu den Requiem Canticles im Grunde immer derselbe Komponist.

Strawinsky führte sich von Anfang an nicht nur als Neuerer ein, sondern auch als jemand, für den Klarheit, Direktheit und Eingängigkeit Kardinaltugenden waren. Petruschka erlangte sofort große Beliebtheit, auch wenn das Werk in vielen rhythmischen und strukturellen Bezügen ganz neuartig war; und die ersten Hörer von Le sacre du printemps mögen über dessen schiere Heftigkeit beunruhigt gewesen sein, sprachen jedoch bald auf seine spürbare Spannung und idealisiert primitive Schlichtheit an. Der Komponist wurde der Extravaganz dieser frühen Werke überdrüssig und durchlief eine eher experimentelle Phase, in der er in kleinerem Maßstab und kargerem, intimerem Stil einige der beziehungsreicheren Aspekte von Sacre du printemps erforschte. Diese Kriegsjahre, eingerahmt von den Drei Stücken für Streichquartett und den Symphonies d’instruments à vent, bestimmten den extremsten Punkt von Strawinskys Radikalismus. Das neue stilistische Selbstbewußtsein, das an Prototypen des Neoklassizismus wie Mavra und dem Oktett abzulesen ist, bringt allem Anschein nach das Bedürfnis zum Ausdruck, die Verbindung mit traditioneller Musik wiederherzustellen, ohne den modernistischen Standpunkt aufzugeben.

Dreißig Jahre lang schrieb Strawinsky Werke, die vorgaben, tonal zu sein, in Sonatensatz- oder in Konzertform, klassisch phrasiert, in scheinbarer "Standardbesetzung" nach dem Vorbild von Bach oder Beethoven, oder Werke, die vorgaben, im populären Stil geschrieben zu sein, wie zum Beispiel die Scènes de ballet oder das Ebony Concerto, und schließlich sogar eine pseudo-Mozartsche Oper: The Rake’s Progress. Als er sich im Anschluß an Rake’s Progress wiederum nach einer für Erneuerung geeigneten Basis umsah, setzte er bei den reinsten tonsprachlichen Elementen an. Die Cantata enthält Ideen von protominimalistischer Schlichtheit, auch wenn sie in ihrem langen kanonischen Mittelsatz die Sache kompliziert. Serielle Musik hieß für Strawinsky dennoch nie qualvoll wienerische Beklemmung der Schönbergschen Sorte. Er war durchaus fasziniert vom mathematischen Verstand und der unterschwelligen Sinnlichkeit Weberns. Aber nicht einmal Zahlen – vielleicht muß es heißen: am wenigsten Zahlen – vermochten sein natürliches Gespür für Rhythmus und Bewegung zu verschütten, seine Vorliebe für klangliche Widersprüche oder sein Gefühl für das harmonische Grundgerüst; auch wo sie am tief-gründigsten ist (in den Movements oder den Variationen A. Huxley in memoriam), erreicht seine späte Musik immer Fliehgeschwindigkeit. Selbst wenn sie manchmal den Verstand verwirrt, bringt sie immer das Blut in Wallung.


Strawinsky hatte zahlreiche Verleger, angefangen mit Jurgenson in Moskau und Schott in Mainz. Nach dem Zweiten Weltkrieg überstand Boosey & Hawkes bei weitem am längsten die anspruchsvolle Partnerschaft mit ihm, was vor allem dem Geschäftssinn von Ralph Hawkes und der unumstößlichen, musikalisch sachkundigen Sympathie von Ernst Roth zu verdanken ist. In den vierziger Jahren handelte Hawkes den Erwerb des Katalogs der alten Edition Russe aus, der viele der bedeutendsten früheren Werke Strawinskys umfaßte, darunter Petruschka und Le sacre du printemps sowie Meisterwerke der zwanziger und dreißiger Jahre wie das Klavierkonzert, Oedipus Rex und die Psalmensinfonie. So kommt es, daß der Katalog von Boosey & Hawkes einen umfassenden uberblick über Strawinskys Musik in all ihrer Vielseitigkeit vermittelt.

Stephen Walsh, 1996
(Dozent für Musik an der University of Wales, Cardiff; Autor
und Rundfunkjournalist und z. Zt. Verfasser einer Biographie über Strawinsky)

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