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Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Zeit
Eine Einführung in die Musik Detlev Glanerts

von Guy Rickards

„Ich bin kein Komponist, der die Vergangenheit zerstört, um seine eigene Welt zu erschaffen", erklärte Glanert in einem Interview zu Beginn seiner zehnjährigen Residenz als Hauskomponist beim Königlichen Concertgebouw-Orchester in Amsterdam. „Ich möchte immer wissen, woher ich komme, wo meine Wurzeln liegen … das macht mich frei." Diese Aussage birgt die zentrale Facette von Glanerts musikalischem Schaffen: dass seine Musik einerseits Elemente vergangener Traditionen aufnimmt und sie andererseits in neue Formen und Kontexte gießt, nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für zukünftige Hörer. Diese Einstellung zur Kultur und Geschichte der Musik scheint beinahe einer klanglichen Anwendung auf jene Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzukommen, die auch die philosophischen und poetischen Werke etlicher Schriftsteller bestimmt, wie zum Beispiel T S Eliot.

Glanerts feiner Sinn für Zeit zeigt sich in allen seinen Werken, von den winzigsten und leichtesten Miniaturen wie seinen Vier Quartetten für Kontrabässe (oder Celli; 1984, überarb. 1986) oder der Kleinen Kuttel-Daddeldu-Musik für Jahrmarktsorgel (1997) bis hin zu seinen abendfüllenden Opern Caligula (2004–06) und Solaris (2010–12). Er bestimmt die Strukturen und das Klangbild jedes seiner Werke nicht weniger als die harmonische Sprache und festgefügte Formen wie Sonate oder Rondo. Besonders anschaulich zu hören ist der Einfluss seines Sinnes für Zeit, wenn man seine vier jüngsten Opern vergleicht. Caligula, basierend auf Albert Camus’ dramatischer Abhandlung über Tyrannenherrschaft, ist eine moderne Darstellung eines alten historischen Sujets, nämlich das eines der verrücktesten römischen Kaiser. Trotz Ermordungen, Blut und Vergewaltigung gibt es komische, surreale und satirische Momente in Hülle und Fülle. Das Kammeroper-Tanzstück Nijinskys Tagebuch (2007–08) dagegen hat ein schmaleres instrumentales Klangbild und ist in avancierterem Musikstil geschrieben, der paradoxerweise die Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts in Erinnerung ruft. Der Einakter Das Holzschiff (2008–10, nach dem ersten Teil von Hanns Henny Jahnns Trilogie Fluß ohne Ufer) enthält reichhaltig illustrierte Beschreibungen vom Meer und den Gefühlszuständen der Hauptdarsteller und weist dabei eine Unmittelbarkeit auf, die an die besten Momente eines Korngold denken lässt (wenn auch harmonisch stärker 'kontrolliert'). In Solaris (nach Stanislaw Lems berühmtem Roman) finden wir wieder ein volleres Klangbild vor, darunter einige bemerkenswert feinfühlige Passagen für Chor, in einer großformatigen Oper, die auf einer Raumstation in der Umlaufbahn eines entfernten Planeten in der Zukunft spielt, auf dem die Gegenwart von Erscheinungen aus der Vergangenheit bestimmt wird …

In seiner Heimat errang Glanert zunächst vor allem durch seine Opern Bekanntheit. Von diesen hat er mittlerweile vierzehn vorgelegt, beginnend 1986 mit der kurzen Kammeroper Leviathan, die auf einem von Thornton Wilders „Dreiminutenspielen" basiert. Acht Jahre später folgten zwei weitere Teile, Der Engel, der das Wasser bewegte und Der Engel auf dem Schiff, die zusammen mit Leviathan den einstündigen Dreiteiler Drei Wasserspiele bilden. Zu dieser Zeit hatte Glanert bereits sein tragisches Märchen Leyla und Medjnun (1987–88) geschrieben, das im Nahen Osten des Mittelalters angesiedelt ist. Der Spiegel des großen Kaisers (1989–93) spielt hauptsächlich in Palermo im Jahr 1235; einem nicht namentlich genannten Kaiser, vermutlich Friedrich II., werden Visionen der Zukunft zuteil, in denen er die Vernichtung des kaiserlichen Geschlechts und die Vernichtung Europas in der Schlacht von Verdun 1916 voraussieht. Obwohl Friedrich der Enkel von König Roger war, bezieht sich Glanerts Musik, trotz all ihrer anfänglichen Lyrik, sicherlich nicht auf Szymanowski. Mit dem Einakter Joseph Süß über das Leben eines Juden am herzoglichen Hof im Württemberg des 18. Jahrhunderts errang Glanert 1998 große Bekanntheit in Deutschland; besonderen Zuspruch von Kritikern und Publikum brachte ihm vor allem die folgende komische Oper Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung (1999–2000, nach Grabbe), in der es den Teufel auf eine banale, apokalyptische Erde verschlagen hat. Darauf folgte Die drei Rätsel (2002–03) für Kinder und Erwachsene sowie seine komische Opernminiatur bzw. das Intermezzo Ich bin Rita (2003), das in der Gegenwart spielt und nur sieben Ausführende benötigt: eine Sopransoubrette und einen Tenor, begleitet von einem Klavierquintett.

Anders als in seiner Heimat gründete sich Glanerts Bekanntheit im Ausland zunächst in erster Linie auf seine Kammermusik und seine Orchesterwerke, auch wenn dieses Bild sich neuerdings umkehrt und bei steigenden Aufführungszahlen verwischt. „Ich sehe Musik als einen Muskel", bemerkte Glanert in einem Interview, „der aus Emotionen, Konstruktion und Material gemacht ist … manchmal dominiert eines von ihnen die anderen, manchmal nicht, und dann beginnt er sich zu bewegen. Für mich ist Musik völlig organisch." Bewegung, besonders harmonische Bewegung, ist ein weiterer Grundpfeiler von Glanerts Musik, in der es immer ein klares Gefühl für den Puls gibt. Das organische Wachsen von Motiven und Themen ist die tragende Säule dieser Werke, nicht zuletzt der Orchesterwerke, dem nach den Opern bekanntesten Teil seines Schaffens. Glanert wandte sich schon früh der Sinfonie zu (was nicht überrascht, angesichts der Beziehung zu seinem Lehrer Hans Werner Henze und durch diesen zu Karl Amadeus Hartmann und Hindemith); 1984/85 entstanden zwei sinfonische Werke: seine Sinfonie Nr. 1 für großes Orchester, eine vollkommen überzeugende einsätzige Konstruktion, die zu einem lebhaften und schlüssigen Höhepunkt hinführt, und eine 25minütige Kammersinfonie für sieben Musiker. Die Zweite Sinfonie dagegen ist eine Gruppe von Drei Gesängen aus „Carmen" von Wolf Wondratschek (1988–90). Auch wenn das Werk mit seinen zuweilen opernhaften Passagen für den Solo-Bariton den Komponisten erst nach und nach davon überzeugte, dass es sich um eine Sinfonie handelte, ließ es beim Publikum keinen Zweifel daran. Glanerts Dritte und bislang letzte Sinfonie (1995–96) war ein Auftragswerk für die BBC Proms (so wie Theatrum bestiarum zehn Jahre später); die fünf lebhaft komponierten Sätze sind von Roman Polanskis blutiger und gewalttätiger Verfilmung von Shakespeares Macbeth inspiriert. Vor und nach diesem Werk kamen seine ersten beiden Konzerte heraus – „Nr. 1" für Klavier (1994; eine Nr. 2 gibt es bislang nicht) und Musik für Violine und Orchester (1995–96). Abgesehen von drei aus der Oper Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung entnommenen Tänzen für Tuba und Orchester (2002) gibt es nur noch ein einziges weiteres konzertantes Werk von Glanert, nämlich das Doppelkonzert für zwei Klaviere und Orchester (2007), geschrieben für Simon Crawford-Phillips und Philip Moore; seine neun Abschnitte (in drei Dreiergruppen) sind von den Bildern der Mars-Sonde Pathfinder inspiriert, und der Tatsache, dass diese Mars-Regionen alle nach römischen und griechischen Mythen benannt wurden – vielleicht war dies die erste Etappe auf dem Weg zu Solaris.

Seit seiner Dritten Sinfonie hat Glanert freiere Formen bei der Entwicklung seines 'Orchestermuskels' gewählt, so wie bei der fesselnden „Metamorphose für großes Orchester" Katafalk (1997) und der Burleske (2001), oder auch den späteren Opern nahestehenden Werken: den „Liedern und Tänzen" in memoriam Schostakowitsch, Theatrum bestiarum (2005, zu Caligula), und Fluß ohne Ufer (2008, das eine Verbindung zu Das Holzschiff hat). Zu seinen Werken aus jüngerer Zeit gehören das „Adagio für großes Orchester" Insomnium (2009–10, zu Solaris), die Brahms-Fantasie (2011–12, mit dem Untertitel „Heliogravure", nach der frühen Technik der Fotografie und basierend auf kurzen Allusionen an die erste Sinfonie von Brahms, der wie Glanert aus Hamburg stammt), Nocturne (2012) und Frenesia (2013, für die Feierlichkeiten des Königlichen Concertgebouw-Orchesters Amsterdam zum 150. Geburtstag von Richard Strauss), sowie Weites Land (2013, für das Oldenburgische Staatsorchester), das wiederum Beziehungen zu Brahms’ vierter Sinfonie aufweist.

Einen Kontrapunkt zu den Sinfonien in Glanerts kammermusikalischen Schaffen bilden seine drei Kammersonaten, Vergessenes Bild (1994), Gestalt (1995) und Geheimer Raum (2002), die die Feinsinnigkeit von Glanerts experimentellem Instrumentalstil wie unter dem Mikroskop sichtbar machen. Sein Kammermusik-Œuvre ist voll von Stücken mit solchem „Werkstattcharakter", darunter Streichquartette, Bläserquintette und -oktette, obgleich sein neuestes Kammermusikwerk, das großformatige Klavierquartett Elysion (2013) ein eher trauriges Anliegen hat, nämlich das Gedenken an seinen im Oktober 2012 verstorbenen Lehrer Hans Werner Henze. Aber dieselbe Lust aufs Ausprobieren neuer Dinge prägt auch seine reinen Instrumentalwerke, deren wichtigste die Vier Fantasien für Klavier (1987) und die verträumt-phantasievolle, siebensätzige Gitarrensuite Paralipomena (1994, nach Novalis) sind. Zu seinen Vokalwerken zählen die Mörike-Kantate für Chor und Orchester (2003–04) und Orlando furioso – 15 Lieder für Countertenor und Gitarre mit einer Gesamtdauer von über 40 Minuten (2005).

Ein weiterer, immer stärker hervortretender Zug in Glanerts Schaffen könnte als 'Zirkularität von Erfahrung' bezeichnet werden, in dem Sinne, dass man von der Suche nach neuen Landschaften und Ausblicken schließlich mit einer völlig gewandelten Perspektive ins Basislager zurückkehrt. Das gilt nicht nur für seine Originalwerke mit engem Bezug zu vergangenen Traditionen – die viel gespielte Mahler/Skizze (1989) etwa, oder die Brahms-Fantasie –, sondern auch für seine Orchestrierungen und Bearbeitungen von Musik aus der Vergangenheit. Diese zeigen eine bemerkenswerte Vielfalt in der Art der Bearbeitung, von einfachen Arrangements bis zu durchdachten Neukompositionen, und reichen von Glinkas Variationen über ein Thema von Mozart für Flöte und Orchester (2002) bis hin zu mehreren Fassungen des „geistlichen" Konzerts Argentum et Aurum nach Heinrich Isaac (2004–05). Am erfolgreichsten aus diesem Bereich von Glanerts Schaffen sind die Vier Präludien und Ernste Gesänge (2004–05), teilweise Orchestrierung, teilweise Variation über Brahms’ letzten Liederzyklus (im Klangbild dem Deutschen Requiem angelehnt), in dem die den Liedern beigegebenen Vor-, Zwischen- und Nachspiele einen komponierten Kommentar zu Brahms’ Musik darstellen, in einem Stil, der beide Komponisten auf grandiose Weise verschmilzt. Im Jahr 2009 instrumentierte Glanert Schuberts herrliches Lied Einsamkeit (2009), das gleichzeitig eine Kantate ist und, wie Glanert herausarbeitet, auf Mahler vorausweist, eines seiner großen Vorbilder. Daran schließen sich Mahlers übrig gebliebene Wunderhorn-Lieder (2013) und das Te Deum (2013, für Soli, Chor und – dank Glanert – Orchester) von dem völlig in Vergessenheit geratenen Ciro Pinsuti (einem Schüler Rossinis) aus dem Jahre 1859 an. 2002 legte Glanert eine rekonstruierte und reorchestrierte Fassung von Giuseppe Becces unvollständiger Partitur der Musik für den Murnau-Stummfilm Der letzte Mann von 1924 vor.

Vielleicht ist Glanert nicht der extremste Experimentator, aber er ist ganz offenkundig ein musikalischer Erforscher: expressiv, strukturell und philosophisch, mit der Zeit als entscheidender Dimension. Für ihn ist jedes Ende ein neuer Anfang – eine Vorstellung, der Eliot sich entschieden angeschlossen hätte.

© Guy Rickards, 2013 (Übersetzung: Andreas Goebel)

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