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Die individuelle Stimme: Eine Einführung in die Musik von Elena Firsova
von Gerard McBurney

Elena Firsovas musikalische Stimme zieht uns mit ihrer Feinheit und bekenntnisartigen Intimität unmittelbar in ihren Bann: Sie fasziniert uns durch die Angewohnheit der Komponistin, ihre Stücke leise beginnen und enden zu lassen, möglichst sanfte Bögen melodischer Linien zu bilden und sie genau so zu formen, dass ihre Menschlichkeit, Einsamkeit und Fragilität besonders hervorgehoben werden.

Firsovas Musik erinnert oft an das Ein- und Ausatmen.

Natürlich sollte man nicht übertreiben. In einigen Werken finden sich auch laute und sogar wilde Momente, die jedoch so gut wie nie am Anfang oder Ende des Werks anzutreffen sind. Fast immer treten sie wie Ausbrüche von Verzweiflung in Erscheinung, die sich auf einer Reise ereignen, die meist weich und ruhig beginnt und ebenso endet.

Zu Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn wurde Firsova nach eigenem Bekunden entscheidend von ihrem Vater geprägt. Beide Eltern waren Physiker – ihr Vater ein international anerkannter Wissenschaftler im Bereich der Atomtheorie. Als Einzelkind wuchs sie unter Erwachsenen auf, die alle aus der Naturwissenschaft kamen und „immer mit Bedacht und klar gesprochen haben. Niemand hat etwas Überflüssiges gesagt.“

In Bezug auf ihren Vater geht sie sogar noch weiter: „Als Wissenschaftler war er äußerst kreativ, vielleicht sogar noch viel mehr als viele andere in der Kunst. Und ihm war unumstößlich klar, wie wichtig die Form war. Vielleicht irre ich mich auch, aber ich habe den Eindruck, dass meine eigene instinktive Herangehensweise an die musikalische Form durch sein Vorbild geprägt wurde.“

Neben ihrem Vater kam auch der nächste wichtige Einfluss auf ihr kreatives Schaffen nicht aus der Musik: Bereits als Jugendliche hatte sie sich mit dem großen russischen Dichter Ossip Mandelstam auseinandergesetzt, dessen Werk bis heute entscheidenden Einfluss auf sie als Komponistin ausübt. „Wenn ich Mandelstam lese, habe ich das Gefühl, dass ich das lese, was ich selbst geschrieben hätte, wenn ich Dichterin geworden wäre.“

Mandelstam war einer der führenden „Akmeisten“, einer kleinen Schriftstellergruppe zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich mit großer Leidenschaft dem modernen, überreifen, mitreißenden Symbolismus widersetzte, der damals so beliebt war. Die Akmeisten bevorzugten das Gegenteil: eine Eigenschaft, die sie „schöne Klarheit“ nannten und die sich sehr treffend auf die musikalischen Intentionen Firsovas übertragen ließe.

In seinen späteren Lebensjahren geriet Mandelstam in Konflikt mit der sowjetischen Führung und starb 1938 im Alter von 47 Jahren auf dem Weg in ein Arbeitslager an Krankheit und Erschöpfung. Er selbst stellte einmal kurz und knapp fest: „In Russland sind Gedichte oft ein Mordmotiv.“ In Anbetracht der katastrophalen politischen Umstände der damaligen Zeit überrascht es nicht, dass über diese Geschichte bis zur Tauwetter-Periode unter Chruschtschow in den 1950er Jahren größtenteils der Mantel der Verschwiegenheit ausgebreitet wurde. Als die junge Firsova Mandelstam und seine Lyrik in den 1960er Jahren für sich entdeckte, befasste sie sich also mit etwas, das so gut wie neu war. Zutiefst bewegt und unter dem Eindruck der unzähligen musikalischen Möglichkeiten, die seine feine und durchsichtige Kunst bot, las sie von Mandelstam alles, dessen sie habhaft werden konnte.

Als erstes Ergebnis ihrer kreativen Faszination für diesen Künstler aus einer anderen, aber nicht so weit zurückliegenden Ära, schrieb sie eine Reihe von Vokalwerken zu Gedichten von Mandelstam, überwiegend für eine einzelne Gesangsstimme und verschiedene Kammerensembles. Bei genauerer Betrachtung dieser Frühwerke zeigt sich, dass ihnen nicht nur eine fast verlegene „Schönheit“ innewohnt, sondern dass sie als eine Art Labor fungierten, in dem Firsova die größere musikalische Sprache entwickeln konnte, nach der sie suchte.

Mit anderen Worten inspirierte Mandelstam Firsova dazu, sie selbst zu werden.

Als Beispiel dafür mag ihre Kantate op. 31 für Sopran und Kammerensemble mit dem Titel „Das irdische Leben“ (1984) dienen. Hier arrangierte sie fünf Gedichte von Mandelstam wie einen Bogen, der eine Reise beschreibt – von der Stille über innere Widersprüche bis hin zu ruhelosen Gedanken und wieder zurück über innere Widersprüche erneut hin zur Stille, die sich nun jedoch anders darstellt und von einem fast klassischen Glauben an die verklärende Macht der Kunst beseelt ist.

In ihren Vertonungen geht Firsova immer sehr auf den Klang der Sprache eines Dichters ein, auf seinen Rhythmus und seine Phrasierung, die sie – wie der Wind durch ein Blätterdach – sanft zu besonderen musikalischen Details hindrängt und das Ab und Auf ihrer musikalischen Sprache formt.

Kommen wir nun zur besonderen klanglichen Bedeutung von Mandelstams Worten, wie sie beispielsweise gleich am Beginn ihrer Vertonung stehen:

Der gespannte und gedämpfte Klang
Einer Frucht, die vom Baum herabfällt,
Inmitten eines leisen Gesangs
Tiefer Ruhe des Waldes...

Keine Übersetzung kann hier Mandelstams feines Netz russischer Assonanzen und Reime wiedergeben, doch die Bedeutung dieser Worte offenbart so viel wie ihr Klang, wenn wir zu verstehen versuchen, was Firsova mit den sich entfaltenden Linien in all ihren Werken – egal ob kleines Vokalwerk oder ein anderes Instrumental- oder Orchesterstück – zum Ausdruck bringen möchte:

Ein Gefühl von Anspannung oder Gespanntheit (im Russischen klingt auch Vorsicht mit), ein gedämpfter Klang (ähnlich dem, was T. S. Eliot einprägsam als „gehört, halb gehört, in der Stille“ beschrieb), dieses seltsame, isolierte rhythmische Schlagen, wenn eine Frucht vom Baum herab auf weichen Boden fällt, ein Moment ganz für sich allein, außerhalb von Metrum oder Puls (wie einzelne „Schläge“ in Firsovas Musik) und die fast Cage-artige Idee des fortwährenden „leisen Gesangs... tiefer Ruhe...“.
Fast genau dieselben Gesten finden sich zu Beginn eines Orchesterstücks aus jüngster Zeit – „Nacht in Appen“ op. 186 (2020) –, das zum Teil in Erinnerung an eine schlaflose Nacht entstand, die Firsova im Haus ihrer langjährigen Freundin Sofia Gubaidulina in Nordwestdeutschland verbrachte:

Die „singende Stille“ der Nacht um das Haus (Tam-Tam und ein extrem leiser ausgehaltener Akkord in den tiefen Instrumenten des Orchesters),
ein Holzblock, der nicht so sehr an das Herabfallen der bei Mandelstam erwähnten Frucht denken lässt, sondern eher an das gelegentliche Knacken eines Asts, und eine sich sanft und geschmeidig entfaltende Melodie – die Entsprechung der Gesangsstimme am Anfang, aber dieses Mal für andere Blasinstrumente –, wie aus weiter Ferne und im Schatten eines gelegentlichen Seufzers von ein oder zwei Violinen.
In diesem erst kürzlich entstandenen reinen Orchesterwerk greift Firsova die musikalischen Morpheme wieder auf und haucht ihnen neues Leben ein, die sie selbst vor fast vierzig Jahren in dem Versuch gebildet hat, Mandelstam eine musikalische Stimme zu verleihen.

Und diese Morpheme, die man auch als „Formen“ oder gar „musikalische Silben“ bezeichnen könnte, treten mit einem ganzen Vokabular an Bildern in fast jedem Stück, das sie als erfahrene Komponistin geschrieben hat, wieder auf.

Sehen wir uns den nächsten Moment im Einleitungsteil von „Nacht in Appen“ an: ein weiterer typischer Fingerabdruck von Firsova, eine plötzliche Bewegung von extremer Stille und ausgehaltenen Harmonien zu einem anderen, fast seufzerartigen Moment, als ob ein Vorhang vor ein Fenster gezogen wird.

Es ist typisch für Firsova, dass die Vertikalität dieser beiden Harmonien, für sich genommen, kräftige klangliche Möglichkeiten nahelegt. Doch wenn sie sich von einem Akkord zum nächsten bewegt, sind es atemberaubenderweise der Moment und die Farbe der Bewegung, die hier wichtig sind, und nicht irgendwelche anderen klanglichen Bedeutsamkeiten. Eine flüchtige klangliche Idee verschwindet zugunsten einer anderen wieder. Die Musik verleitet uns dazu, dem Moment zuzuhören und uns von dem berühren zu lassen, was er suggerieren könnte, als ein Phänomen von vielen, das mit dem Weiterlaufen der Zeit wieder verfliegt.

Selbstverständlich hat Firsovas musikalische Sprache einiges mit der Sprache vieler ihrer sowjetischen Zeitgenossinnen gemein, vor allem der älteren unter ihnen, deren Musik sie seit jeher bewundert und die auf unterschiedlichste Art und Weise ihre Mentorinnen waren (Schnittke, Gubaidulina, Denissow). Dies trifft auch auf die eher anders geartete Musik ihrer engen Freundinnen und Zeitgenossinnen und insbesondere auf die Musik ihres verstorbenen Ehemanns, lebenslangen Kollegen und Partners Dmitri Smirnov zu (mit dem sie fast ein halbes Jahrhundert lang zusammenlebte und 1991 mit den gemeinsamen Kindern nach Großbritannien emigrierte). Firsova gehört ganz klar derselben Kultur an wie sie. In ihrer Musik und der Musik so vieler dieser sowjetischen und postsowjetischen Komponistinnen finden sich typische rhetorische Tricks und seltsam idiosynkratische Muster, die russische Musikerinnen gern als „Intonationen“ bezeichnen und die tief in älteren musikalischen Traditionen Russlands verwurzelt sind.

Doch Firsovas Musik unterscheidet sich in wichtiger Hinsicht auch stark von der Musik der anderen Komponist*innen dieser Gruppe. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die russische und sowjetische Kunst sind oft mit symbolischen Gedanken durchtränkt: Denissow und Schnittke waren, jeder auf seine Weise, sehr daran interessiert, ihre Akkorde und Bilder mit symbolischen Werten zu versehen. Gubaidulina erschuf für sich praktisch eine eigene Ikonographie, und Smirnov verwendete in seiner Musik verschiedene symbolische Systeme, die oft geheimnisvoll und sehr häufig von seinem Lieblingsdichter und -denker William Blake inspiriert waren.

In ihrer eigenen Musik lehnt Firsova solche außermusikalischen Strategien ganz klar und ruhig ab. Stattdessen macht sie, ihrem geliebten Mandelstam folgend, standhaft so weiter, wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hat, und sucht dieselbe geheimnisvolle Einfachheit und „schöne Klarheit“ der Herangehensweise, die ihm so viel bedeutete. Denn wie es der Dichter selbst einmal elegant formulierte, ist „das Einzige, was wirklich echt ist, das Kunstwerk selbst.“

© Gerard McBurney, 2023
(Komponist, Orchestrator, Schriftsteller, Sprecher, Erfinder, Rekonstrukteur verlorener und vergessener Werke von Schostakowitsch)
(Übersetzung: Konstanze Höhn)

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