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An ihren Werken sollt ihr sie erkennen: Der biblische Satz gilt für Komponisten weit mehr noch als für die Allgemeinheit, an die er gerichtet war. Mit ihren Werken greifen die Kreativen in ihre Gegenwart ein. In ihnen überschreiten sie zugleich die Grenzen der Zeit; sie wenden sich mit dem, was sie schreiben, an ihre Mitmenschen, an ihre Zeitgenossen, aber auch – voraus weisend – an Generationen, die sie nicht kennen und von denen sie nichts wissen. So wird im musikalischen Werk die Zeit zur Hoffnung und die Hoffnung zur erfüllten Zeit.

Und zur Geschichte. Diese gewinnt Sinn durch den Horizont der Zukunft und Substanz durch die Vergangenheit, auf der sie ruht. In Frank Michael Beyers Kompositionen sind beide Dimensionen der Geschichte gegenwärtig; darin liegt ein Teil ihres spezifischen Zeitbewusstseins. Im weiten Universum der Musikhistorie gewannen für den Sohn eines Schriftstellers zwei Komponisten als »Fixsterne« besondere Bedeutung: Johann Sebastian Bach und Anton Webern. Die Musik Bachs kannte er von Kindheit an; sein Vater veröffentlichte in den zwanziger Jahren im Berliner Furche-Verlag ein Buch über den Mann, den er mit Max Reger für das A und das O der abendländischen Musikgeschichte hielt. Bach blieb für Frank Michael Beyer Gegenstand immer frischer Neugierde und immer neuer Entdeckungen. Mit der Musik Anton Weberns wurde er während seiner Studienzeit in den frühen fünfziger Jahren bekannt. Er fand bei beiden nicht nur Strenge des Denkens, sondern die Befreiung, die eine vollkommene Beherrschung kompositorischer Methoden für die musikalische Vor- und Darstellung bedeutet. Immer wieder setzte er sie zueinander in Konstellation und verlängerte dabei den Spannungsbogen, der sie verbindet, in zwei Richtungen: hin zu dem, was Bach bereits zur Voraussetzung hat, und hin zu dem, was aus Webern folgen könnte. In die feine Polyphonie, die Schichtungen und Gruppierungen des 2003 uraufgeführten Chorwerks Et resurrexit ist auch die Betrachtung der alten vielstimmigen Werke eines Josquin oder eines Thomas Tallis mit eingegangen; die Erfahrung, wie aus einem immer engeren Geflecht der Stimmen im Verlauf der Zeit gleichsam ein atmender, intensiv bewegter Klang wird. Dieser Zeit-Bogen zieht sich, mehr oder weniger offenkundig, mehr oder weniger bestimmend, durch das gesamte Schaffen von Frank Michael Beyer. Er wirkt in der Fuga fiammata für Orchester, generiert aus der Tonfolge, die »Bach im Schlusssatz seiner e-Moll-Partita thematisiert hat«. Sie ist, wie Webernsche Reihen, aus einer Zelle von drei Tönen entwickelt und lenkt das musikalische Geschehen geheimnisvoll aus dem Hintergrund, tritt nur an markanten Positionen deutlich hervor. Dieses Denken in Tongruppen und Tonskalen ist charakteristisch für die jüngeren Werke Frank Michael Beyers. Es verbindet ihn mit den Grundgedanken heutigen Schaffens jenseits von Serialität, elektronischer Musik und postmodernen Re-Kreationen.

Mit Bach – und in gewisser Weise auch mit Webern – lässt Frank Michael Beyer die Einteilung der geistigen Welt in streng abgegrenzte Zonen nicht gelten: hier Kunst, dort Wissenschaft, hier christliche Tradition, dort antikes Denken, hier geistliche, dort weltliche Musik. Sein Œuvre enthält zwar ausgesprochen geistliche Werke wie die Biblischen Szenen, die Manifestatio Christi oder das Canticum Mose et Agni für acht- bis zwölfstimmigen Chor, ebenso Werke, die eindeutig für den säkularen Konzertsaal bestimmt sind, aber auch Werke der Grenzüberschreitung, ein Streichquartett, das Missa heißt und dessen Sätze Titel aus dem Ordinarium der Messe tragen, und die Liturgia, die Fassung des Quartetts für Streichorchester. Religion und Philosophie, Glauben und Denken bilden für ihn keine Gegensätze, sie gehören zur Welterfahrung und aus ihnen speist sich die Kraft, Neues zu gestalten. Die Mythen und die Kunst der Antike, in denen die Musik ins Zentrum des Menschenlebens führt, sind in Werken wie dem Ballett Geburt des Tanzes, Griechenland für großes Orchester und dem Violinkonzert Musik der Frühe gegenwärtig: als gedankliche Tore einer ästhetischen Erfahrung, die aus den Bruchstücken des Hier und Jetzt ins Offene und zugleich Zusammenhängende des Zeit-Raums Geschichte weist.

Wer mit Frank Michael Beyer über seine Werke spricht, wird einen großen Teil der Unterhaltung mit Arbeiten anderer Komponisten und deren Hintergründen zubringen – und gerade dadurch Wesentliches über Beyers eigenes Komponieren erfahren. Denn die musikalische Komposition ist für ihn Ausdruck einer geistigen Welt, die viele Quellen und Äußerungsformen kennt. Ein Gespräch mit ihm über Bachs h-Moll-Messe führt zu vielen Entdeckungen, an denen Fachliteratur vorbeigeht. Sie stammen aus der eigenen Erfahrung, aus der Neugier des kreativen Künstlers, für den Forschen, Erkennen und Gestalten zusammen gehören. Ein Gespräch über Skrjabin öffnet den Horizont für einen spezifischen Weg der Moderne als eines Versprechens, das noch nicht eingelöst ist.

Frank Michael Beyers Wirken beschränkt sich nicht auf das Komponieren allein. Für den »homo culturalis« gehört die Vermittlung von Erkenntnis und Erfahrung mit zur Arbeit. Er gab sein Wissen und Können als Lehrer für Komposition an der Hochschule der Künste (heute: Universität der Künste) an seine Studierenden weiter, er gründete dort das Institut für Neue Musik, initiierte die Reihe »Musica nova sacra«, mit der die Kluft zwischen avancierter Musik und gebrauchsästhetisch orientierter Kirchenmusik überwunden wird, er verantwortete die Berliner Bachtage, und war für die Berufskollegen im Aufsichtsrat der GEMA tätig. 1986 bis 2003 leitete er die Musiksektion der Berliner Akademie der Künste, der er seit 1979 angehört, seit 1981 ist er außerdem Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

In den letzten Jahren treten einige Züge in Beyers Komponieren deutlicher hervor, die in früheren Werken bereits angelegt waren, aber eher aus dem Hintergrund auf die Strukturen einwirkten. Sie hängen einerseits mit Konfigurationen des strikt musikalischen Denkens, andererseits mit der gesellschaftlichen Situation und Verantwortung der Künste zusammen. Das Œuvre seit 2003 enthält einen außergewöhnlich hohen Anteil solistischer Werke – entweder für ein Instrument allein, wie die Metamorphosen für Violine solo (Hommage à A. Skrjabin), oder für ein Soloinstrument mit Orchester, wie das Violakonzert Notte di pasqua oder das Flötenkonzert Meridian – beide erweiterte er nach Abschluss der ersten Fassung um einen nachkomponierten Satz oder Satzteil zur endgültigen Werk-Architektur. Selbst die Choreographie für zwölf Violoncelli zieht ihre Energie über weite Strecken aus der Spannung zwischen solistischer und chorischer Bewegungsinitiative. Im Klaviertrio Lichtspuren trägt der mittlere Satz, das Kernstück des Werkes, die Polarität zwischen solistischem Klavier und den beiden Streichern auch als Konflikt zwischen Behauptung und Sozialisierung des Individuellen aus.

Der gesellschaftlichen Einsicht antwortet bei Frank Michael Beyer die kompositorische Stringenz. Sie kristallisiert sich in seinen neuen Werken vor allem um das Verhältnis von Melos und Klang. Ein Beispiel dafür geben die Metamorphosen, eine Reflexion über Skrjabins sechste Klaviersonate, die Beyer schon in seiner Studienzeit faszinierte. Teils bewegtes, teils fragiles, teils insistierendes Melos tritt in ihr aus stehendem, oft aufrauschendem Klang hervor wie Feinzeichnungen eines geheimnisvollen Raumes. In ihren stetig sich weitenden Kreisläufen ist das Imaginäre jenseits der physischen Musikgestalt mitkomponiert. Beyer geht mit seinen Metamorphosen den Weg in Gegenrichtung – aus dem Melos zum Klang. Dabei erscheint der imaginäre Anteil des harmonischen Raums vergrößert, die Form weitet sich noch stärker als bei Skrjabin, bleibt bei dessen Material, aber zieht in andere Ausdrucksbereiche. Zeit erscheint in dieser frei fließenden Musik nicht länger mehr als Taktzwang, sondern gleichsam als Schale, als Gefäß, das die Musik auffängt.

Im Flötenkonzert Meridian tauen zu Beginn die harten Akkorde der Streicher unter den virtuosen Einstrahlungen der Soloflöte allmählich auf. Dieser Vorgang, der in ein kurzes Solo der Flöte mündet, bildet das Portal zu einem Werk, das in seiner endgültigen Fassung konzentrisch angelegt ist und diese Form – ein typisch musikalisches Paradox – in der Zeit entrollt. Zwei zarte, kurze Intermezzi – das erste für die Soloflöte allein, das zweite im Dialog mit der ersten Violine – rahmen ein kraftvoll-dynamisches Zentralstück und werden ihrerseits von einem Eingangssatz, der die Perspektiven öffnet, und einem Schlussstück, das »motivisch gewonnene Elemente im tragenden Melos verdichtet«, umfangen. Der Grundgedanke, im Werktitel zum Begriff geworden, wird in einer Polyphonie der gedanklichen Schichten auf verschiedenen Ebenen der Komposition wirksam: in ihrer konzentrischen Anlage; in jenem Zentralton »h«, der die zentrifugalen Kräfte des dritten Satzes auch dort sammelt und ordnet, wo er nicht zu hören ist, und in den sich der Verlauf des Satzes mehrmals bündelt; schließlich in den Soli, die das Zentralstück umgeben und ihre Entsprechungen, ihren Vor- und Widerschein, auch in den anderen Sätzen finden.

Dass im Spätwerk eines Künstlers die Fragen nach den letzten Dingen in den Vordergrund rücken, scheint sich als unverwüstlicher Gemeinplatz bis heute zu halten. Der Überprüfung hält er nicht stand. Fragen von Leben, Endlichkeit und Ewigkeit, von Liebe, Tod und Vollendung sah Frank Michael Beyer nie an eine Altersstufe gebunden. Seine neuesten Werke zeichnen sich, gegen das verbreitete Vorurteil, durch einen luziden, feinnervigen, bisweilen leuchtenden Klang aus.

Notte di pasqua nannte er sein Bratschenkonzert, das 2004 nach der Musik der Frühe (1992/93) für Violine und Orchester und dem Violoncellokonzert Canto di giorno (1998/99) die Trilogie der Konzerte für ein Streichinstrument mit Orchester abschloss. Lichtspuren überschrieb er sein Klaviertrio (2006). »Der Titel deutet auf die Macht des flutenden Lichts, hat aber gleichzeitig innerkompositorischen Bezug zu aufleuchtend tragenden musikalischen Brückenschlägen« (F. M. Beyer). Die Metapher des Lichts verweist auf die Hauptlinien des geistigen Erbes, aus dem wir leben: auf die griechische Antike, die jüdisch-christliche Überlieferung und auf die Aufklärung, den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant).

© Habakuk Traber, 2008

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