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...der Individualität Gestalt geben
von Detlef Lehmbruck

Steffen Schleiermachers Musik ist, so unterschiedlich sie sich auch in ihrer klanglichen Außenseite gibt, durch einen völligen Verzicht auf ornamentale Arabesken und "geschlechtslose Tonspiele" (Schleiermacher) geprägt. Bei einem Komponisten, der 1960 in Halle geboren ist und in den achtziger Jahren in der sich auflösenden DDR sozialisiert wurde, überrascht das kaum. Wie viele seiner Altersgenossen wollte er sich von den spätexpressionistischen Ausbrüchen der mittleren Generation der DDR-Komponisten absetzen. Von Anfang an beherrschte somit der Wunsch nach Transparenz musikalischen Geschehens die Arbeit. Schon der Gesang des Apsyrtos (1985), welcher die Besetzung von Stockhausens Kreuzspiel aufnimmt, zeigt charakteristische Eigenschaften: eine Satzfaktur, die sich an den Instrumentengruppen orientiert und ihren einzelnen Schichten jeweils eine spezifische Gestik und eine spezifische Funktion im Werkganzen zuordnet. Das kompositorische Interesse Schleiermachers gilt hier wie in seinen meisten Werken Problemen der rhythmisch-metrischen Organisation, der Dialektik zwischen ostinaten rhythmischen Einheiten und komplexen Überlagerungen, weniger der Tonhöhenorganisation, die in Messiaenischen Modi wurzelt. Ähnliches ließe sich auch zu Festgefressen sagen, Schleiermachers bislang einzigem Streichquartett von 1994. Trotz struktureller Ähnlichkeiten, können die Inspirationsquellen für die einzelnen Werke sehr verschieden sein: Beim Gesang des Apsyrtos liegen sie wie bei Kreon für Kammerorchester (1987) oder Sisyphos für Blechbläser und Schlagzeug (1996) in der griechischen Mythologie, bei Festgefressen ebenso wie im Trio für Posaune, Violoncello und Klavier (1987) in der Vorstellung einer kommunikativen oder sozialen Situation: Der etwas ungewöhnliche Titel (von "Festgefressen") bezeichnet einen Zustand der Ausweglosigkeit, gegen die aber immer wieder angerannt wird. Eine Bewegung wird gebremst, ist in ihrer Einseitigkeit letztendlich zum Stillstand verdammt. Im Streichquartett wird dieser Stillstand harmonisch, melodisch aber auch rhythmisch erzeugt: Es gibt keine harmonische Entwicklung - starre 8-Ton Akkorde liegen dem gesamten musikalischen Geschehen zugrunde; kurze melodische und rhythmische Floskeln versuchen ab und zu eine Entwicklung, laufen aber immer wieder auf, verbeißen sich geradezu in bestimmte Modelle, verdrehen diese immer wieder in sich (Schleiermacher).

Tatsächlich zeigt der Gesang des Apsyrtos in gleicher Weise, daß Schleiermachers Interesse von der strukturellen Situation angeregt ist, die in dem Mythos der Kriegslist der Medea ihren Ausdruck gefunden hat: Die in sich kreisende Figuration des Gesangs in den beiden hohen Holzbläsern ist demnach genauso ein klingendes Sinnbild für den in Ritualen gefangenen, ausweglosen Menschen. Unangemessen wäre es jedoch, Schleiermacher deshalb in die Geschichte engagierten Komponierens einzuordnen. Politische und weltanschauliche Botschaften mit Musik transportieren zu wollen, liegt ihm ebenso fern wie der Versuch der Serialisten, durch die perfekte Legitimation des Tonsatzes ein ästhetisches Programm zu formulieren.Wie den meisten Komponisten seiner Generation liegt seinem Schaffen der Wunsch zugrunde, eine Position durch die Betonung der Individualität des einzelnen Werkes und seiner Gestalt und damit letztlich des einzelnen Menschen zu formulieren; ein Wunsch, der nicht zuletzt durch ein tiefes Mißtrauen gegen alle Formen des Kollektiven, auch in der Musik, geprägt ist. Hinzu kommt, daß bei einem Musiker wie Schleiermacher, der für sich selbst die Rolle des Interpreten gleichberechtigt neben der Rolle des Komponisten sieht, der Aspekt des Musik-Machens bei jedem Werk eine Rolle spielt. Ein Aspekt, der ähnlich im Œuvre etwa Vinko Globokars oder Luciano Berios festzustellen ist: Die menschliche Situation, die ein Werk mehr oder weniger abstrakt abbildet, korrespondiert so mit der musikalischen Rolle des ausführenden Musikers. Sie ist dem Interpreten gleichsam auf den Leib geschrieben. Daher erstaunt es nicht, daß manche Werke Schleiermachers im Zuge ihrer Aufführung theatralische Züge gewinnen, soweit sie nicht sowieso Tendenzen des instrumentalen Theaters nahestehen, wie die szenische Kammermusik Sei auf dem (?) Hut (1985) oder die Zeremonie für Kammerensemble (1988). Dieses Verständnis der Interpretation von Musik als Rollenspiel provoziert wiederum die beschriebene Faktur des musikalischen Satzes in Schichten. Konstruktiv ist dies für diejenigen Werke, in denen der Ausgangspunkt unmittelbar in Fragen der musikalischen Struktur liegt. Zu nennen ist hier Quintett für Violine, Violoncello, Flöte, Klarinette und Klavier (1989), das sich in seinen einzelnen Abschnitten jeweils auf eine Intervallgruppe beschränkt; ebenso die Musik für Kammerensemble (1990), die der Versuch einer musikalischen Transformation der Gedanken Kandinskys aus dessen Schrift Punkt und Linie zu Fläche ist. Sie beginnt mit harten und kurzen Unisono-Akkorden von Klavier und Xylophon, die nach und nach durch ausgehaltene Töne der Bläser in die Zeit projiziert werden, wodurch aus Punkten Linien werden. Die kompromißlose Härte ihrer Gestik stellt diese Musik in die Tradition von Strawinsky, Varèse und Xenakis.

© by Detlef Lehmbruck

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