Sikorski
„Mein Saxophonquartett ‚A–O‘ entstand Anfang des Jahres 2020 für das Stockholm Saxophone Quartet. Der Titel hat eine klangliche und eine geistige Bedeutung. A und O sind zwei Vokale, die in allen Sprachen vorkommen. In vielen europäischen Sprachen stehen sie für Ausrufe des Erstaunens, auch der Freude. Sie lassen sich gut singen. Durch sie transportiert der Atem den Ton. A und O stehen aber auch für Alpha und Omega, für Anfang und Ende des griechischen Alphabets. Im Neuen Testament wird Jesus Christus manchmal ‚A und O‘ genannt. So heißt es im Weihnachtslied „In dulci jubilo” über das Kind in der Krippe: ‚alpha es et o‘.
Ein Saxophonquartett hatte ich vorher noch nie geschrieben, aber es gibt schon drei Streichquartette von mir. Der hohe Rang des Schreibens für Quartett ist in der europäischen Musik durch zwei Dinge begründet: den dichten Diskurs zwischen den vier Stimmen, also ein Gespräch zwischen allen vier Instrumenten auf der Ebene der Linearität im diachronen Verlauf des Stücks, und dann die Darstellung einer möglichst komplexen Harmonik in der Beschränkung auf vier Stimmen. Beides macht das A und O guten Quartettschreibens aus, beides hat mich auch im Saxophonquartett beschäftigt. Zugleich aber die Idee, dass alle unsere Gespräche, alle unsere Begriffe von Harmonie nur vorläufig sind, endlich. Auf die Vollkommenheit können wir nicht vorgreifen, und die Zeit verweht alles, was wir schaffen.
Ich fotografierte während der Entstehungszeit des Quartetts – es war ein besonders schöner, sonnenreicher, warmer Vorfrühling – die Wolken am Himmel und die ersten Blumen in der Nähe unseres Frankfurter Hauses, lauter Gebilde von vergänglicher Schönheit und zufälliger Gestalt. Gestalt ist nicht Chaos. Chaos ist das Gegenteil von Gestalt, das Ungestaltete, kybernetisch gesprochen: die Gleichverteilung von Elementen im Raum. Gestalt ist Ungleichverteilung, Entscheidung zum Zusammengehören, Trennung von Figur und Hintergrund, Definition von A und O. Aber Gestalt kann im Chaos ruhen, im Ungestalteten. Michelangelo soll unzählige seiner Figuren in ein und demselben Stein gesehen haben. Jedes Behauen des Steins war für ihn mit ungeheurer Melancholie verbunden: die Eingrenzung des Möglichen auf ein Wirkliches. Schönheit im Chaos zu sehen, heißt in die Zukunft zu schauen, heißt vertrauen auf das, was noch nicht zu sehen ist.
Doch es steckt eine Sehnsucht in uns, in die Welt vor ihrer eigentlichen Gestalt zurücksehen zu können. Der Philosoph George Steiner, der im Februar starb, gerade als ich an dem Quartett schrieb, sagte vor sechzehn Jahren in einem Interview: ‚Wenn man mir sagt, ‘das Gott-Problem ist Unsinn’ oder ein ‘grammatischer Fehlschritt’ der Sprache, wenn mir Stephen Hawking sagt: ‘Die Frage, was kommt vor dem Big Bang, ist eine Frage, die man nicht stellen kann oder darf’, dann weiß ich, dass das arroganter Unsinn ist. Man kann diese Frage stellen. Wir stellen sie. Ich habe das Recht zu sagen: Warum darf ich nicht wissen, was vor dem Urknall war? Augustinus hat mir darüber immer noch mehr zu sagen als Herr Hawking. Wenn man mir sagt, wir dürfen die Gottesfrage nicht mehr ernstnehmen, dann glaube ich, wir werden auch die großen Formen der Kunst in Europa nicht mehr haben‘.
Und so ist es unsere Aufgabe als Künstler, dem nachzuspüren, was vor der Entstehung der Welt war und nach ihr sein wird, in dem Wissen, dass wir selbst nicht A und O sind, aber einen Anfang und ein Ende haben.“
(Jüri Reinvere, September 2020)