100 Jahre Façade

Kompositorischer Geniestreich und einer der berühmtesten Skandale der Musikgeschichte: Am 12. Juni 1923 wurde William Waltons Vertonung von Gedichten Edith Sitwells erstmals öffentlich aufgeführt.
[William Waltons Kompositionen sind verlegt bei Oxford University Press und werden von Boosey & Hawkes in Deutschland, Österreich und der Schweiz vertreten.]
Die erste öffentliche Aufführung von Façade: An Entertainment in der Londoner Aeolian Hall am 12. Juni 1923 war ein historischer succèss de scandale: Die Dichterin Edith Sitwell rezitierte ihre Texte durch ein in die Kulisse eingebettetes Megaphon, William Walton dirigierte sein sechsköpfiges Instrumentalensemble, und Osbert Sitwell machte den Zeremonienmeister. Der Komponist war 1919, als 16-Jähriger‚entdeckt‘ worden – von Sacheverell Sitwell, jüngerer Bruder oder Edith und Osbert und Studienkollege von Walton an der Universität Oxford. Walton wurde zum „adoptierten bzw. gewählten Bruder“ der Sitwell-Geschwister, lebte mit ihnen in Chelsea und nahm die pulsierende künstlerische Atmosphäre des Nachkriegs-London in sich auf. Daraus resultierte mit quasi zwingender Logik, dass er Begleitmusik zu den Texten von Façade komponieren sollte. In dieser Form fand die erste Rezitation 1922 bei zwei privaten Hausaufführungen statt.
Der experimentelle Charakter der öffentlichen Aufführung im Folgejahr zog die Aufmerksamkeit der Presse auf sich, insbesondere der Feuilletons und Klatschblätter, die das ganze Unterfangen zumeist als Publicity-Gag verspotteten. Die Premiere erregte Tumulte. Das Publikum reagierte in Teilen mit vehementem Unverständnis, in Teilen jedoch auch sofort enthusiastisch, und der Musikkritiker der Daily Mail konstatierte „den außerordentlich anregenden fortlaufenden Kommentar durch Mister Waltons Musik. Seine musikalische Erfindungsgabe ist so originell und geistreich wie Miss Sitwells Poesie und fügt sich zum Rhythmus der gesprochenen Verse, als ob Worte und Musik aus einem Guss wären. Es gelingt ihm, aus den sechs verwendeten Instrumenten eine ansprechende Vielfalt an Farben herauszuholen.“
Trotz des anfänglichen Schockmoments von Façade und der kritischen Kontroversen stellen, wie Gramophone anmerkt, „die musikalischen und sprachlichen Errungenschaften das Werk eher an die Seite von Zeitgenossen der 1920er Jahre wie James Joyces Ulysses, die Berliner Theaterexperimente von Bertolt Brecht und Kurt Weill und Ensemblewerke mit ähnlicher Konzeption wie Schönbergs Pierrot lunaire, Strawinskys Geschichte vom Soldaten und Saties Parade.“
> Ausschnitt aus Façade mit Barbara Hannigan und Simon Rattle auf YouTube
> Orchestersuiten aus Façade auf Spotify
Façade begründete William Waltons Karrierebeginn als enfant terrible, das im London der 1920er Jahre für eine ähnliche Aufregung sorgte wie es im Paris jener Zeit die Musik von Les Six und Prokofjew tat. Der junge Komponist, bei der Uraufführung Anfang zwanzig, sollte in den folgenden Jahrzehnten immer wieder auf Façade zurückkommen: für weitere Aufführungen, die Aufnahme von 1929 durch die Decca und eine BBC-Ausstrahlung. Er überarbeitete die Partitur, unter Berücksichtigung auch der Ratschläge seines Kollegen Constant Lambert, bis er 1951 die Werkgestalt für die Veröffentlichung durch die Oxford University Press endgültig fixierte; sie umfasst eine Fanfare und 21 Nummern, die in sieben Gruppen von je drei Gedichten angeordnet sind. Sie wurde bald auf einer zweiten Decca-Aufnahme mit Edith Sitwell und Peter Pears als Sprecherin und Sprecher und dem English Opera Group Ensemble unter der Leitung von Anthony Collins festgehalten.
Zu seinem 75. Geburtstag im Jahr 1977 schuf Walton Façade 2: A Further Entertainment, mit Nummern, die aus Gründen der dramaturgischen Balance aus dem Ur-Werk ausgeschlossen worden waren. Nach einer weiteren Überarbeitung im folgenden Jahr umfasste Façade 2 acht Nummern, die 1979 beim Aldeburgh Festival mit Peter Pears als Rezitator eine prominente Aufführung erlebten. Vier weitere Nummern stehen heute ebenfalls zur Aufführung bereit – die verbliebenen Streichungen beider Zyklen.
Drei Suiten mit Material aus Façade sind für Aufführung mit Orchester (auch rein instrumental ohne Rezitation) erhältlich. Die Orchestersuiten Nr. 1 und Nr. 2 mit fünf bzw. sechs Nummern wurden vom Komponisten selbst bzw. von Constant Lambert instrumentiert; bei der Suite Nr. 3 handelt es sich um Christopher Palmers Orchestrierung weiterer Teile aus Façade: An Entertainment. Waltons Musik ist auch auf der Tanzbühne geläufig. So hat Constant Lambert sieben Nummern aus den ersten beiden Suiten – ohne Rezitation – für Frederick Ashtons einaktiges Ballett Façade zusammengestellt; es wurde 1931 uraufgeführt und ist nach wie vor ein Publikumsliebling.
Die Façade Entertainments im Rahmen der William Walton Edition vereinten zum ersten Mal alle dreiunddreißig erhaltenen Walton-Vertonungen der Sitwell-Gedichte, die unter diesem Titel geschrieben und aufgeführt wurden. Diese Ausgabe der Façade Entertainments gibt die komplette Partitur wieder und präsentiert sie in einem praktischen Format. Dank der William Walton Edition steht das gesamte Schaffen des Komponisten heute Wissenschaftler*innen und Interpret*innen in einer definitven Ausgabe zur Verfügung – so, wie der Komponist seine Musik aufgeführt wissen wollte. Der inzwischen verstorbene Reihen-Gesamtherausgeber David Lloyd-Jones – Dirigent, Spezialist für englische Musik und Gründer der Opera North – übertrug die Verantwortung für die Teilbände jeweils international renommierte Expert*innen. Sorgfältig recherchierte einleitende Essays ordnen die Werke in ihren historischen Kontext und in das Gesamtschaffen des Komponisten ein, ergänzt um umfangreichen Anmerkungsapparate.
> Façade Entertainments im Boosey-Onlineshop
Eine neue Aufnahme mit dem Titel „The Complete Façades“ ist jüngst bei Naxos erschienen, mit einem Sprech-Trio, den Virginia Arts Festival Chamber Players und der Dirigentin JoAnn Falletta (Naxos 8.5734378). Gramophone schreibt: „Straff und witzig, eine treffsichere Wahl der Tempi spiegelt den Text genau wider ... Unter Falletta kommt Waltons congeniale Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Jazz- und Tanzband-Einflüssen der 1920er Jahre ebenso klar und unterhaltsam zum Ausdruck wie die Parodie von Rossini und patriotischen Liedern.“ Diese neue CD steht neben der klassischen Einspielung von Sitwell mit dem Kostelanetz Orchestra unter Frederik Prausnitz bei Sony Classical (88883 73718-2), Pears und Sitwell mit dem English Opera Group Ensemble (Decca ELQ4803783) und Andrew Littons Aufnahme der Suiten Nr. 1 & 2 auf Walton Centenary Edition in der Reihe The British Music Collection (Decca 4705082). Dutton Vocalion brachte soeben eine SACD-Aufarbeitung der kompletten Multitrack-Aufnahme von 1975 mit Tony Randall (Sprecher) und dem Columbia Chamber Ensemble unter Arthur Fiedler heraus (CDLX 7394).
> William Walton bei Oxford University Press
> OUP Orchester-Leihmaterial
Abb.: Frank Dobsons Entwurf des Vorhangs für die erste öffentliche Aufführung von Façade.