Brittens Billy Budd neu interpretiert

Für das Festival von Aix-en-Provence schufen Regisseur Ted Huffman und der Komponist Oliver Leith eine stark komprimierte Version von Benjamin Brittens Oper Billy Budd und versuchen so, Gehalt und Deutungsgeschichte von Herman Melvilles ikonischer Novelle neu zu durchdringen. Premiere ist am 5. Juli im Théâtre du Jeu de Paume.
Die Geschichte von Billy Budd, die von Hafen zu Hafen immer wieder erzählt wird, ist ein Rätsel: Wie ist es möglich, dass der schöne, von allen bewunderte Seemann als Verbrecher an der Rah seines Schiffes hängen musste? Wie eine mythische Schriftrolle hat Herman Melvilles unvollendete Novelle zu zahlreichen Kommentaren und Interpretationen Anlass gegeben und einen faszinierenden Bedeutungsnebel erzeugt. In der Geschichte selbst verdunkelt der aufziehende Nebel des Krieges die Vorstellungen einer westlichen, auf Recht gegründeten Gesellschaft bis zur Unkenntlichkeit; und er vermischt sich auf verhängnisvolle Weise mit dem Nebel des homosexuellen Begehrens, das die Protagonisten – arme Stellvertreter der auf hoher See verirrten Menschheit – sowohl zerstört als auch rettet.
Für das Festival von Aix-en-Provence schufen der Britten-erfahrene Regisseur Ted Huffman (seine Inszenierung von A Midsummer Night’s Dream für die Deutsche Oper Berlin wird 2025/26 wieder aufgenommen) und der Komponist Oliver Leith eine stark komprimierte Version der Oper Billy Budd, die Benjamin Britten auf Grundlage von Melvilles Erzählung 1951 schuf (revidiert 1960). Huffman und Leith wollen die Aufmerksamkeit mittels erzählerischer und klanglicher Neuinterpretation auf das Wesentliche lenken: die Rückbesinnung auf die volkstümlichen Wurzeln der Geschiche, auf die ewige Seemannsballade; die Hinterfragung des „queeren“ Nebels, der von Melville und Britten zu uns herüberweht und sich „in eine politische und metaphysische Meditation darüber verwandelt, was Menschlichkeit ausmacht, was eine Gemeinschaft festigt oder zerstört“.
Die neue Fassung verdichtet Brittens Oper auf die Dauer von nur einer Stunde und die im Original umfangreiche Sängerbesetzung auf drei Hauptrollen sowie einen „Chor“ von drei Männerstimmen solo. Drei Keyboards und Schlagwerk, mit den Darstellern auf der Bühne postiert, wollen nicht ein großes Opernorchester ersetzen. Vielmehr soll hier die Erschaffung einer eigenen Interpretation auf Grundlage von Brittens Material erfahrbar gemacht werden, so als entstehe sie unmittelbar im Moment der Aufführung. Das intimere, nahbare Setting komme dem Gehalt des Stückes zugute, wie Regisseur Ted Huffman erklärt:
„Die Figur des Billy Budd, die Reaktion auf ihn ist wie eine Folie für das Leben ... Die Idee, dass queeres Begehren eine Kraft ist, die die Menschen unglücklicherweise in zwei Lager spaltet und sowohl zum Guten als auch zum Zerstörerischen wirken kann, ist von großer Relevanz. Ich denke, dass Melville und Britten dieser Frage auf wunderbare Weise nachgehen und dass es heute eine große Chance ist, direkter darüber sprechen zu können.“
Erstaufführung:
The Story Of Billy Budd, Sailor
Kammeroper von Oliver Leith und Ted Huffman
nach der zweiaktigen Fassung von Brittens Billy Budd (1960/64)
Libretto von Edward Morgan Foster und Eric Crozier
nach Herman Melvilles Billy Budd, Sailor, (An Inside Narrative) (1924, posthum)
Festival d’Aix-en-Provence, 5., 7., 8. und 10. Juli 2025
Inszenierung: Ted Huffman
Musikalische Leitung: Finnegan Downie Dear
Billy Budd: Ian Rucker
John Claggart / Dansker: Joshua Bloom
Edward Fairfax Vere / Squeak: Christopher Sokolowski
Novice / Maintop: Hugo Brady
Mr. Redburn / First Mate: Noam Heinz
Mr. Flint / Second Mate: Thomas Chenhall
Keyboards: Finnegan Downie Dear, Richard Gowers, Siwan Rhys / Schlagwerk: George Barton
Fotos: Britten (Angus McBean / Archiv Boosey & Hawkes) | Ted Huffman (Festival d’Aix-en-Provence)