Komponist Carlisle Floyd gestorben

Boosey & Hawkes trauert um den amerikanischen Komponisten Carlisle Floyd, der am 30. September im Alter von 95 Jahren in Tallahassee, Florida, verstorben ist.
Floyds Biograph Thomas Holliday schrieb einen Nachruf auf einen der einflussreichsten Opernkomponisten Amerikas.
„Ain’t It a Pretty Night?“ Die Worte der Susannah aus der gleichnamigen Oper, dem ersten, genialen Bühnenwurf von Carlisle Floyd, hallen nach, da sich der große Komponist nun am 30. September 2021 in Tallahassee (Florida) zur letzten Ruhe begeben hat. In 95 Lebensjahren voller Schaffensdrang brachte Floyd es zum Meister des Klavierspiels, des literarischen Schreibens und der bildenden Künste – all dies schon, bevor er dann in die amerikanische Opernwelt des 20. Jahrhunderts eintrat und – mit zwei weiteren Schöpfungen im 21. Jahrhundert – zu ihrem herausragenden Librettisten und Komponisten in Personalunion wurde. Floyds musikalische Sprache, jene zutiefst persönliche Mischung aus eingängiger Melodik, Polytonalität und Amerikanismus, ist die Frucht seines im Süden der USA erblühten englisch-irisch-schottisch-walisischen Stammbaums. Als Verfasser seiner eigenen Libretti war er das US-amerikanische Pendant zu Richard Wagners Gesamtkunstwerk: „Text und Musik von Carlisle Floyd“.
Er arbeitete mit vielen großen Künstlerinnen und Künstlern des 20. Jahrhunderts zusammen, für die hier mit Phyllis Curtin, Renée Fleming, David Gockley, Mack Harrell, Robert Holton, Jack O’Brien, Harold Prince, Samuel Ramey, Julius Rudel und Norman Treigle nur eine bescheidene Auswahl genannt sei. Seine Großzügigkeit gegenüber Kolleginnen und Kollegen ist legendär: Auf ihn war immer Verlass, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin in Not geriet oder die musikalische Jugend auf der Suche nach der eigenen Stimme und Bestimmung Hilfe benötigte. Auch noch mit über 90 Jahren wirkte er als Mentor von Künstlern wie Mark Adamo, Matt Aucoin, Jake Heggie, Henry Mollicone und Rufus Wainwright.
Floyds amerikanische Wurzeln reichten tief und waren weit verzweigt: Seine Vorfahren siedelten bereits 1623 als Einwanderer in der Kolonie Jamestown in Virginia. Im Laufe der nachfolgenden Generationen ließ sich der Großteil seiner Familie im ländlichen South Carolina nieder. Unser Carlisle Sessions Floyd wurde am 11. Juni 1926 als Sohn des Methodistenpredigers gleichen Namens und dessen Frau Ida Fenegan in dem kleinen Örtchen Latta, South Carolina, geboren. Zusammen mit seiner Schwester Ermine wuchs er in einem Trubel aus Familienzusammenkünften, sommerlichen Erweckungsversammlungen und durch die Arbeit seines Vaters bedingten häufigen Umzügen innerhalb South Carolinas auf. All diese Erlebnisse gingen ein in Susannah und deren spätere Schwesterwerke.
Floyds erste Klavierlehrerin war seine irische Mutter. Abgesehen von etwaigen Einflüssen walisischer Barden aus längst verflossenen Zeiten, waren die Fenegans der Urquell seiner Musik. Da er ursprünglich Konzertpianist werden wollte, studierte Floyd zunächst bei Titanen wie Ernst Bacon, Sidney Foster und Rudolf Firkusny. Durch Bekanntschaften jedoch mit Schauspielern, Tänzern, Regisseuren, Choreographen und Dirigenten wandte er sich stattdessen der Komposition und letztlich der Oper zu. Ernst Bacon, gleichfalls Komponist von Rang, ermöglichte Floyd hier ein bescheidenes Debüt: Im Mai 1949 fand im Rahmen eines Opernworkshops der Syracuse University die Uraufführung von Floyds erstem Bühnenwerk Slow Dusk statt, basierend auf einer frühen Kurzgeschichte aus eigener Feder. Dem Anfangserfolg dieser Oper haben wir es zu verdanken, dass in den folgenden sechs Dekaden zwölf weitere Opern entstanden. Einschließlich der grundlegenden Libretto- und Partitur-Überarbeitung vier seiner Opern umfasst Floyds Œuvre schließlich insgesamt siebzehn Werke.
In chronologischer Reihenfolge sind dies: Fugitives, ebenfalls auf Grundlage einer eigenen Kurzgeschichte komponiert. Nach einer enttäuschenden Produktion an der Florida State University (FSU) im Jahr 1951 verwahrte Floyd dieses Werk in seinem Archiv, welches er später der Library of Congress vermachte. Susannah (FSU, 1955) hingegen wurde begeistert aufgenommen und verhalf ihm zu internationaler Beliebtheit. Wuthering Heights, 1958 an der Santa Fe Opera aus der Taufe gehoben, überarbeitete Floyd schon im Jahr darauf für die New York City Opera. The Passion of Jonathan Wade, eine breit angelegte Schilderung der Ära der Reconstruction, erlebte ihre Premiere 1962 an der New York City Opera beziehungsweise, in eingehend revidierter Fassung, 1991 an der Houston Grand Opera.
In den 1960er Jahren entstanden auch The Sojourner and Mollie Sinclair, ein Einakter über schottische Einwanderer im 18. Jahrhundert, zum dreihundertjährigen Bestehen North Carolinas geschrieben und 1963 am East Carolina College in Raleigh uraufgeführt, und Markheim, die Opernversion einer dämonisch grundierten Kurzgeschichte von Robert Louis Stevenson, die 1966 an der New Orleans Opera herauskam. Of Mice and Men, Floyds mehrfach überarbeitete Adaption von John Steinbecks Roman, gelangte erstmals 1970 an der Seattle Opera zur Aufführung und wurde schnell zu Floyds nach Susannah meistgespieltem Werk. Die Jacksonville Symphony, Florida, brachte 1972Flower and Hawk zur Uraufführung, ein einaktiges Monodram über das Leben Eleonore von Aquitaniens.
Floyds Verbundenheit mit der Houston Grand Opera verdankt sich Bilby’s Doll (1976, 1991/92 für das Houston Opera Studio überarbeitet) nach Esther Borbes’ Buch Mirror for Witches über religiöse Verfolgung im Neuengland des 17. Jahrhunderts. 1981 brachte Houston Willie Stark auf die Bühne, Floyds Adaption von Robert Penn Warrens All the King’s Men.
Nach zwei Jahrzehnten persönlicher und beruflicher Turbulenzen wandte Floyd sich Olive Ann Burns’ Cold Sassy Tree zu – seine gleichnamige Oper wurde im Jahr 2000 ebenfalls in Houston uraufgeführt. Mit dieser Rückkehr zu seinen Südstaaten-Wurzeln entstand das dritte in der Trias seiner beliebtesten Werke; ein Kritiker bezeichnete Cold Sassy Tree als „erste große Oper des 21. Jahrhunderts“. Seit Anfang 2011 beschäftigte Floyd sich mit Jeffrey Hatchers Theaterstück Compleat Female Stage Beauty sowie dessen Filmadaption Stage Beauty aus dem Jahr 2004. Die Uraufführung der hieraus hervorgegangenen, mitreißenden Kammeroper Prince of Players in Houston im März 2016, wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag, stellte Floyd neben Opernschöpfer vom Range Monteverdis, Verdis und Richard Strauss’: Wenn Jonathan Wade Floyds Don Carlos ist, so ist Prince of Players sein Falstaff.
Floyd war immer auch ein hervorragender Lehrer, zunächst an der Florida State University (1949 – 1976) und später weitere zwanzig Jahre lang an der University of Houston. In Zusammenarbeit mit der Houston Grand Opera gründete er, gemeinsam mit David Gockley, das dortige Opernstudio, an dem Generationen junger Sänger, Dirigenten, Regisseure und Komponisten ausgebildet und künstlerisch gefördert wurden. Nach dieser wahrhaft prometheischen Karriere führte der akademische Ruhestand den Komponisten 1996 wieder zurück nach Tallahassee, zu Familie und Freunden.
Floyds beachtliches Œuvre jenseits der Oper umfasst kleinere und größere Lieder- und Chorzyklen, eine außerordentlich anspruchsvolle Klaviersonate, Etüdensammlungen und Orchestrales. Unter seinen zahlreichen Auszeichnungen und Ehrungen sind vor allem das Guggenheim-Stipendium (1956) und das Stipendium der Ford Foundation (1959) zu nennen, welche die lange und schwere Geburt von The Passion of Jonathan Wade und vor allem von Of Mice and Men möglich machten. Die Metropolitan Opera National Company eröffnete ihre erste Saison 1965 mit Susannah, und das „Mutterhaus“, die New Yorker Metropolitan Opera, brachte das Werk 1999 im Lincoln Center auf die Bühne. 2001 wurde Floyd in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen; 2004 erhielt er die National Medal of Arts. 2008 war er, neben Leontyne Price, einer der ersten Träger des National Endowment for the Arts für Verdienste um die Oper in den USA.
Carlisle Floyd und Kay Reeder, mit der er 53 Jahre verheiratet war, hatten keine Kinder. Er hinterlässt vier Nichten – die Töchter seiner Schwester Ermine und treue Hüterinnen seines Nachlasses. Und natürlich dreizehn/siebzehn epochemachende Opern, mit denen er den Nerv unseres menschlichen Daseins berührt.
Für 2026 stehen Feierlichkeiten zu Carlisle Floyds 100. Geburtstag in Aussicht.
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Thomas Holliday ist Autor der vom Komponisten autorisierten Biografie Falling Up: The Days and Nights of Carlisle Floyd (Syracuse University Press, 2014).
(Übersetzung: Konstanze Höhn, Berlin)
Foto: Daniel Tchetchik