Matthias Pintschers neue Oper Das kalte Herz
In Das kalte Herz greift Matthias Pintscher auf Motive aus dem Märchen von Wilhelm Hauff zurück. Das Libretto von Daniel Arkadij Gerzenberg entwirft eine assoziationsreiche Geschichte um Verlust und Liebesunfähigkeit. Als mysteriöse Kulisse dient der romantische Sehnsuchtsort des Waldes. Pintschers auratische, filigrane Klanglichkeit lässt sich auf diesen Schwebezustand ein.
Mit der neuen Oper Das kalte Herz legt Matthias Pintscher sein erstes Werk im Katalog von Boosey & Hawkes vor. Kerstin Schüssler-Bach im Gespräch mit dem Komponisten über das Werk:
Gab es einen Inspirationsmoment zu deiner neuen Oper?
Ja, der lässt sich genau festmachen. Mit dem Ensemble intercontemporain gastierte ich 2019 bei den Donaueschinger Musiktagen. Von da aus habe ich einen Spaziergang durch den Schwarzwald unternommen. Auf einmal spürte ich viele Erinnerungen an meine Kindheit in Deutschland. Aufgewachsen bin ich im nördlichen Ruhrgebiet, aber ich habe das Land mit 16 Jahren verlassen und bin nach England gegangen. Dann habe ich lange Zeit in Paris gelebt, und die französische Kultur hat mich sehr stark geprägt. Seit vielen Jahren lebe ich hauptsächlich in New York. Und plötzlich stehe ich ganz allein im Schwarzwald – sozusagen in der „deutschesten“ Gegend überhaupt. Nach diesem jahrzehntelangen Abstand zu Deutschland, den ich auch bewusst überprüfen wollte, zog mich irgendetwas zurück.
Was verbindet dich konkret mit Hauffs Kaltem Herz?
Das ist tatsächlich eine frühkindliche Prägung: Ich besaß davon eine Hörspielcassette und habe sie immer wieder angehört, mit fünf oder sechs Jahren, bis ich sie praktisch auswendig konnte. Dieses Hauff-Märchen hat mich als Kind viel mehr angesprochen als die Grimm’schen Märchen. Es lag eine dunkle Verzauberung darin. Und weil es eben nur ein Hörspiel war, entstanden meine eigenen Bilder im Kopf.
Wie kam es dann zu dem Opernauftrag?
Das entwickelte sich zu der Zeit, als Daniel Barenboim mir an der Staatsoper Berlin meine ersten Wagner-Opern zu dirigieren gab. Irgendwann fragte er mich: „Matthias, du kennst das Haus jetzt so gut. Wann schreibst du eine Oper für uns?“ Das war vor etwa fünf Jahren. Das kalte Herz ist ein Stoff, der mich persönlich berührt.
Was erwartest du von einem Operntext?
Meine musikalische Sprache hat ja eine gewisse Komplexität. Deswegen sollten der Stoff und der Text eine gedankliche Weite anbieten. Die Zentralfrage bei einer Oper ist doch: Warum sind das singende Menschen? Ich finde die Antwort auf diese Frage nur in einer poetischen Überhöhung, nicht in einer Vertonung von Alltagssprache. Die Feinziselierung in der Musik braucht eher einen großen Pinsel auf der großen Leinwand eines Textes und Stoffes, der nicht alles ausformuliert. Mich interessiert weniger eine textlich ausgefeilte Psychologie der Figuren, sondern ihr seelischer Zustand. Dieses Libretto hat eine innere Verwandtschaft zu den Texten von Maurice Maeterlinck, die auch nicht alles erklären und immer ein gewisses Geheimnis für sich behalten.
Woher kanntest du den Librettisten Daniel Arkadij Gerzenberg?
Ich habe mit Daniel an zwei Projekten für das Ensemble intercontemporain zusammengearbeitet und seine künstlerische Sensibilität sehr geschätzt. Er ist ja nicht nur ein feinnerviger Poet, sondern auch ein fantastischer Pianist, ein toller Liedbegleiter. Als ich schon zwei Jahre um den Stoff vom „Kalten Herz“ gekreist bin, habe ich ihm das Buch auf den Tisch gelegt und gefragt, was er davon halten würde, daraus ein Opernlibretto zu kreieren. Er hat gleich erkannt, dass man den assoziativen Raum, den Hauff ja schon angelegt hat, neu denken muss. Mit einer sehr klaren Sprache und Form, die meiner musikalischen Ästhetik gerade dadurch entspricht, dass sie sie aufbricht.
Wie ist dir dieser Text dann in der Vertonung entgegengekommen?
Ich habe merkwürdigerweise schnell gemerkt, dass ich sehr lange nichts in deutscher Sprache vertont hatte. Schon durch den Stoff, aber dann auch durch Daniel Arkadij Gerzenbergs Text fühlt es sich für mich wie ein sehr persönliches Stück an, mit dunklen Wald- und Naturklängen.
Textlich zitiert wird ja auch einmal Lohengrin mit „Nie sollst du mich befragen“...
Ja, da öffnen sich viele Türen. Man muss natürlich immer sehr vorsichtig bei jeglicher Wagner-Referenz sein, weil man schnell darauf festgelegt wird. Aber es gibt sogar Leitklänge, die sich verändern, zum Beispiel für die Lichtung, die Teil des Albtraums ist.
Der Albtraum des Protagonisten Peter – findet er einen Ausweg?
Es ist ein Netz von Missbrauch, Dunkelheit, Atemlosigkeit, das sich um Peter spinnt. Auch seine Geliebte Clara vermag nicht, ihn mit Wärme zu erfüllen. Er bleibt in seiner Unfähigkeit zur Emotionalität gefangen. Die Bindung zur Mutter ist stärker als seine Liebe zu Clara.
Wie würdest du deinen Vokalstil beschreiben?
Ich habe Wert auf melodische, sangbare Bögen gelegt. Der Sänger, die Sängerin müssen eine Chance haben, sich auszudrücken. Sie brauchen einen gewissen Freiraum, um agogisch zu agieren. Wiederum: Es geht um den singenden Menschen.
Deine letzte Oper L’Espace dernier feierte vor über 20 Jahren ihre Uraufführung. Warum hast du so lange kein Bühnenwerk geschrieben?
Mit L’Espace dernier musste ich mich von der Rimbaud-Obsession meiner frühen Jahre befreien. Es ist ein sehr komplexes, intellektuelles Stück. Ich war danach sowohl als Dirigent wie als Komponist mit vielen anderen Dingen beschäftigt. Der riesige Apparat einer Oper erfordert Mut und die Lust, sich den strukturellen Zwängen des Betriebs zu stellen. Und wahrscheinlich brauchte es diesen Ruck der Kindheitserinnerungen, die mich zu diesem tief empfundenen, aber vergleichsweise „einfachen“ Stück geführt hat. Damit meine ich nicht die interpretatorischen Herausforderungen einer mikrokomplexen musikalischen Struktur, sondern eine Story, die relativ geradeheraus ist.
Mit Verweisen auf das Ägyptische Totenbuch wird aber noch eine weitere mythologische Ebene eingezogen, die nicht bei Hauff angelegt ist.
Diese Idee hatte Daniel Arkadij Gerzenberg weiter ausgeführt. Richtig, die ägyptischen Götter haben erst einmal nichts mit der deutschen Romantik zu tun, aber sie können durchaus im gleichen Raum leben wie Hauffs Figuren.
Im Libretto ist mir auch noch die Formulierung der „Gesprungenen Glocken“ aufgefallen. So heißt ja dein allererstes Musiktheater...
Ja, das war auch schon ein Auftrag für die Staatsoper, 1994 initiiert von Daniel Barenboim. So schließen sich viele Kreise in Das kalte Herz. Nun durfte ich wieder für die Staatsoper schreiben. Dieser sehr spezifische Klang der Staatskapelle – ein sehr farbenreicher, „deutscher dunkler“ Klang – passt ideal zu dem warmen, im übertragenen Sinne märchenhaften Ton, den ich für Das kalte Herz gefunden habe.
Koauftraggeber ist die Opéra Comique Paris, wie kam es dazu?
Ihr Musikdirektor Louis Langrée ist ein langjähriger Freund und er hat das Stück dort gemeinsam mit der scheidenden künstlerischen Leiterin Chrysoline Dupont programmiert. Es ist natürlich schön, nach den vielen Jahren, die ich in Paris gelebt und gearbeitet habe, mit einem neuen Stück präsent zu sein. Wie gesagt, für mich schließen sich hier viele Kreise.
Matthias Pintscher
Das kalte Herz (Nuit sans aube)
Oper in 12 Bildern
Libretto von Daniel Arkadij Gerzenberg,
französische Übersetzung von Catherine Fourcassié
UA: 11.01.2026 Staatsoper Unter den Linden Berlin
F-EA: 11.03.2026 Opéra Comique Paris
Staatskapelle Berlin / Orchestre Philharmonique de Radio France
Musikalische Leitung: Matthias Pintscher
Inszenierung: James Darrah
Bühne: Adam Rigg
Kostüme: Molly Irelan
Video: Hana S. Kim
Licht: Yi Zhao
Dramaturgie: Olaf A. Schmitt
Auftragswerk der Staatsoper Berlin und der Opéra Comique Paris
> Staatsoper Unter den Linden Berlin
> Opéra Comique Paris
Foto: Matthias Pintscher und Daniel Arkadij Gerzenberg (© Maximilian Semlinger)