Urworte: Bernd Richard Deutsch vertont Goethe

Zur Eröffnung der zweite Ausgabe von „Elbphilharmonie Visions“ bringt das NDR Elbphilharmonie Orchester unter Alan Gilbert Bernd Richard Deutschs neue Vertonung der Goethe’schen Urworte zusammen mit dem MDR-Rundfunkchor und dem NDR Vokalensemble zur Uraufführung. In weiteren Konzerten des Festivals erklingen unter anderem Werke von Magnus Lindberg und Olga Neuwirth.
Die „Elbphilharmonie Visions – Das Festival mit Musik der Gegenwart“ zwischen dem 7. und dem 16. Februar starten mit einer doppelten Uraufführung: Unter seinem Chefdirigenten hebt das NDR Elbphilharmonie Orchester ein Werk des jungen Briten Alex Paxton aus der Taufe, danach erklingt im zweiten Konzertteil Bernd Richard Deutschs neue Vertonung der Goethe’schen Urworte, gesungen vom MDR-Rundfunkchor und dem NDR Vokalensemble. Die fünf Teile des Poems widmen sich den Grundmächten, welche das menschliche Leben bestimmen; gemeinsame Auftraggeber waren der NDR und The Cleveland Orchestra. Im Rahmen des Festivals erklingen, neben vielen anderen, weiterhin die Deutschland-Premiere des neuen Violakonzerts von Magnus Lindberg mit dem Solisten Lawrence Power sowie Olga Neuwirths Masaot / Clocks Without Hands.
Zu seinem großformatigen Werk für Chor und Orchester gibt Bernd Richard Deutsch im Interview Auskunft:
Goethe benennt in seinem Gedicht „Urworte. Orphisch“ fünf Kräfte, die das menschliche Leben bestimmen: ΔΑΙΜΩΝ (Daimon, Dämon), ΤΥΧΗ (Tyche, das Zufällige), ΕΡΩΣ (Eros, Liebe), ΑΝΑΓΚΗ (Ananke, Nötigung) und ΕΛΠΙΣ (Elpis, Hoffnung). Was hat dich an der Vertonung dieser altersweisen Sprüche gereizt?
Die “Urworte” sind eine Art “Schicksalslied” für mich. Seit langem schon hatte ich die Idee, ein Stück über die Urkräfte, die unser Leben bestimmen, zu schreiben. Bei der Lektüre eines Buchs über den Schauspieler Oskar Werner, für den das erste Gedicht eine besondere Bedeutung hatte, bin ich auf diesen Zyklus gestoßen und habe mich daraufhin intensiv mit ihm auseinandergesetzt. Dabei fand ich die Ideen, die ich ausdrücken wollte, exemplarisch formuliert.
Der Goethe-Forscher Karl Otto Conrady sagte über dieses Gedicht, es sei die „Anverwandlung des Alten fürs Gegenwärtige“ – nämlich Fragestellungen, die schon antike Philosophen aufwarfen, in Worten, die den aufklärerischen Individualismus durchlaufen haben. Worin liegt für dich das Gegenwärtige der „Urworte“?
Es gibt einen starken Kontrast zwischen dem antiken und dem modernen Schicksalsbegriff. In der griechischen Mythologie gewinnt man oft den Eindruck, die Menschen seien den Göttern mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Denken wir an Oedipus: Obwohl alles unternommen wurde, um dem Orakelspruch entgegenzuwirken, ereignet sich alles genau so, wie vorhergesagt. Anders formuliert: Sich gegen sein Schicksal zu stellen, ist aussichtslos, denn es gibt Kräfte, die uns überragen und denen wir nicht entrinnen können. Die moderne, aufgeklärte Denkweise hingegen ist stark auf das Individuum und seine Entfaltungsmöglichkeiten fokussiert: Man nimmt sein Schicksal selbst in die Hand, und diese Haltung hat wohl auch zu großen zivilisatorischen Fortschritten und revolutionären Veränderungen geführt.
Allerdings ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, und es besteht immer die Gefahr, an der eigenen Hybris zu scheitern.
Verstehst du diese fünf Strophen als (Lebens)zyklus?
Ja, denn eine Besonderheit dieser Gedichte ist, dass die fünf Strophen die gesamte Lebensspanne eines Menschen umfassen und beschreiben: von der Kindheit, Jugend, frühem und mittleren Erwachsenen- bis hin zu hohem Alter.
Der Zusatz „orphisch“ bei Goethe bezieht sich zwar auf die Gestalt des Orpheus. Er taucht hier aber nicht als Figur auf. Als „orphische Dichtung“ bezeichnete man in der Antike bestimmte Schriften – angeblich von Orpheus verfasst –, die sich mit Weisheitslehre und Weltentstehung beschäftigten. Der Dichter übernahm kultische Funktion. Der Künstler als Seher – wie stehst du zu dieser Rolle?
Ich weiß nicht ob der Künstler ein Seher ist, eine Art Medium ist er aber sicher oder sollte er zumindest sein. Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe der Kunst ist, vordergründig zu “analysieren” oder die Gegenwart etwa in einem tagespolitischen Sinn zu kommentieren. Sie ist wahrscheinlich dort am stärksten, wo sie archetypische und zeitlose Phänomene und Aspekte des Lebens reflektiert.
Dein Stück beginnt mit einem „Urknall“. Was ist dieser Dämon, der uns treibt?
Für Goethe war der Begriff des Dämons/Daimons äußerst wichtig. Die Gespräche mit seinem Vertrauten Eckermann zeugen davon. Das Konzept dahinter klar zu definieren, ist schwierig, man kann es vermutlich nur umkreisen. Es ist eine Kraft, die den Menschen antreibt, Charakter, Talent, das gewisse Etwas, Charisma, das schwer Fassliche und doch spürbar Vorhandene.
Als Beispiel verwies Goethe immer wieder auf Napoleon, dem er persönlich begegnete und der eine besondere Faszination auf seine Umwelt ausübte. Das Dämonische ist dabei wertfrei zu sehen. Goethe schreibt dazu: „Der Dämon bedeutet hier die notwendige, bei der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begrenzte Individualität der Person, das Charakteristische, wodurch sich der einzelne von jedem andern bei noch so großer Ähnlichkeit unterscheidet“. Letztendlich ist der Daimon für Goethe als Dichter wohl vor allem die Kraft, die einen Künstler kreativ antreibt und ihn unverwechselbar werden lässt.
Die lateinische Entsprechung zum griechischen Daimon ist übrigens Genius.
Bei Goethe geht es auch um das Hin- und Hergeworfensein des Menschen zwischen Freiheit und Zwang. Ist das auch dein Thema?
Das ist sicher ein zentrales Thema des Stücks. Es geht um die Frage: Gibt es Freiheit, und wenn ja, worin besteht sie?
Die ersten beiden Gedichte, Daimon und Tyche, beschreiben ein wichtiges Gegensatzpaar. Schon Heraklit wusste: „Der Charakter eines Menschen ist sein Schicksal.“ Dieser Gedanke liegt offensichtlich dem Daimon-Gedicht zugrunde. Goethe verwendet das Bild der Sternenkonstellation im Moment der Geburt als Symbol für etwas, das den Menschen unveränderlich prägt. Heute würden wir das als genetische Disposition definieren.
In dem Gegensatzpaar Daimon/Tyche drückt sich ein Kontrast zwischen zwei Prinzipien aus, der im 20. Jahrhundert lebhaft diskutiert wurde: Genetik gegen Umwelteinflüsse. Was davon wichtiger für den Menschen ist, war und ist immer wieder Anlass zu Diskussionen, einmal sind die Gene für alles verantwortlich, dann wieder das soziale Umfeld. Mit Goethe könnten wir sagen: Beides ist ausschlaggebend.
Der Charakter mag zwar unser Schicksal sein (von der Genetik bestimmt), die Umwelteinflüsse, die zufälligen Ereignisse in unserer Kindheit und Jugend haben aber ebenso einen wesentlichen Einfluss auf unsere Entwicklung. Interessant ist auch der Vers „Und handelst wohl so, wie ein anderer handelt“. Anpassung ist ein wesentlicher Faktor in der Sozialisation des Menschen. Dadurch kann allerdings vieles an Individualität verloren gehen.
Und welche Rolle spielt die Liebe dabei?
Goethe schreibt: „Hierunter ist alles begriffen, was man von der leisesten Neigung bis zur leidenschaftlichsten Raserei nur denken möchte.“ Ein zentraler Satz im Tyche-Gedicht lautet: „Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.“ Für mich ist das einer der wichtigsten Gedanken des gesamten Zyklus. Kein anderer Satz wird in meiner Komposition derart oft wiederholt und musikalisch beleuchtet.
Interessant ist, dass darauf bei Goethe unmittlebar das Eros-Gedicht folgt. Der erste Satz darin („Die bleibt nicht aus!“) ist zweideutig: Einerseits bezieht er sich auf die Überschrift „Liebe“, andererseits ist er die Fortsetzung des Tyche-Gedichts und verweist somit auch auf die „Flamme, die entzündet“. Eros und Flamme sind also identisch und erweisen sich als eine zentrale Triebkraft, nicht nur im Bereich der Liebe, sondern auch bei jeder kreativen Tätigkeit.
Dem steht Ananke entgegen. In der griechischen Mythologie ist sie die Personifizierung des Schicksals im Sinne eines äußeren Zwangs. Es geht also neuerlich um Umwelteinflüsse, diesmal aber begrenzende und einengende, die sich mit zunehmendem Alter immer stärker bemerkbar machen (im Gegensatz zu Tyche, der Göttin des – glücklichen – Zufalls). Ananke kann sogar bewirken, dass „das Liebste … vom Herzen weggescholten“ wird, und unsere behauptete Freiheit erweist sich letztendlich als Illusion.
Du schreibst für ein großes Orchester und einen großen Chor. Wie kam es zu dieser Klangvorstellung?
Meiner Ansicht nach verlangen diese Texte nach einer großen Besetzung. Mit Solostimmen könnte ich mir eine Vertonung nicht vorstellen, ebenso mit reduzierter Instrumentalbesetzung bis hin zum Klavierlied. Das liegt sicher am Bedeutungsgehalt und der Allgemeingültigkeit der Gedichte, aber auch daran, dass Goethe zwar ein „Du“ anspricht, damit aber letztendlich alle Menschen meint.
Am Schluss steht die Hoffnung. Goethe wollte sich mit der Beschränkung auf eine vergängliche Existenz nicht abfinden. Der Kern der Individualität war für ihn unzerstörbar. Was symbolisiert die Hoffnung für dich?
Elpis ist eine Hinzufügung von Goethe. In der orphischen Dichtung kommt sie nicht vor, und man könnte vermuten, dass sie dem antiken Schicksalsdenken als Konzept nicht unbedingt entsprach. Und doch hat auch die Hoffnung etwas Schicksalhaftes: Sie ist unzerstörbar und ebenso wie Daimon, Tyche und Eros eine Kraft, die uns antreibt. Auch sie „erhebt“ und „beflügelt“ uns. Der letzte Satz „Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen“ verweist einerseits auf die Unsterblichkeit, andererseits auch auf die Allgemeingültigkeit der fünf dargestellten Prinzipien über die Zeiten hinweg.
(Die Fragen stellte Kerstin Schüssler-Bach.)
Foto: Bern Richard Deutsch (© Wolf-Dieter Grabner)