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Wie finden die beiden Kunstformen zu einander? Was bewegt Choreograf*innen bei der Stück-Auswahl, und was Komponist*innen beim Schreiben für Ballett? In ihrem Bericht gibt unsere tanzerfahrene und -begeisterte Londoner Kollegin Emma Kerr einige sehr persönliche Einblicke.

1992, zwei Monate nach Abschluss meines Musikstudiums, begann ich meine Arbeit bei Boosey & Hawkes, London. Ich kochte Tee, nahm Anrufe entgegen und – so drollig das heute für die Generation Spotify klingt – kopierte Kassetten, damit Leute draußen die Verlagswerke anhören konnten. Hinter den Ohren war ich grün wie ein Dollarschein, wie meine neuen Kolleginnen und Kollegen in den USA es vielleicht ausgedrückt hätten (oder wohl auch taten), aber ich sperrte beide Augen weit auf, hatte ich doch plötzlich regelmäßige Kontakt zu Komponisten, die während der Studienzeit Heldenstatus für mich erlangt hatten. Bebend stellte ich meinem Chef am allerersten Tag einen Telefonanruf von Steve Reich durch, und wenig später kam John Adams zu Besuch. Das erste Konzert, das ich meinem Anfangsmonat zusammen mit der Belegschaft besuchte, war die Uraufführung von James MacMillans sodann legendärem Schlagzeugkonzert Veni, Veni, Emmanuel. Später im selben Jahr erklomm Henryk Góreckis Dritte Sinfonie die Charts. Ich befand mich im Epizentrum einer sich rasch weiterentwickelnden musikalischen Welt!

Neue Komponisten strömten innerhalb weniger Jahre herbei, um mit unserem Team zusammenzuarbeiten. Wir waren eine eingeschworene, leidenschaftliche Gruppe von Propheten, die daran glaubten, nein: wussten, dass die zeitgenössische klassische Musik nach der restriktiven Nachkriegsmoderne nach und nach zum Mainstream zurückkehren würde. Wir druckten Orchesterstimmensätze ohne Ende, um mit der Nachfrage Schritt zu halten, redeten mit Intendanten und Dirigenten, die sich verstärkt mit zeitgenössischen Werken auseinanderzusetzen begannen, und die CD erlebte einen Boom: Plattenfirmen schlossen nach langer Pause wieder Exklusivverträge mit Komponisten.

Auch eine Gruppe sehr talentierter junger Choreografen trat in den 1990ern hervor, voller Neugier auf aktuelle Musik. Das ist natürlich für Choreografen nichts wirklich Neues, und Tanz und Ballett hatten sich in den Jahren zuvor in einer Weise auf Zeitgenössisches eingelassen, die der Klassik-Mainstream nicht kannte. Aber die Bande zwischen beiden Kunstformen waren zu jenem Zeitpunkt in einem gewissen Grad ‚zerfranst‘. Die Musik einzelner Komponisten wie Steve Reich war bei Choreografen beliebt, aber eine enge Zusammenarbeit wie zum Beispiel von Strawinsky und Balanchine oder Bernstein und Robbins gab es kaum. Die lange Verbindung zwischen John Cage und Merce Cunningham endete just 1992 mit Cages Tod, und William Forsythe und Thom Willems waren damals ein rares Beispiel für die beständige kreative Kooperation von Choreograf und Komponist.

Anfang/Mitte der 1990er Jahre, mit dem erwähnten Wiederauftauchen im Klassik-Mainstream – vor allem in neuen Einspielungen –, begann die zeitgenössischer Musik die choreografische Welt neu zu inspirieren. Im Verlag erhielten wir immer mehr Rechteanfragen für Vertanzungen, und nachdem ich eine Reihe von Aufführungen erlebt hatte, war ich von den sich eröffnenden neuen Möglichkeiten zunehmend begeistert. Die britische Schriftstellerin Barbara Pym sprach von „der Art Unsterblichkeit, die sich die meisten Autoren wünschen würden – das Gefühl, dass ihr Werk sofort erkennbar wäre als das ihre, von niemand sonst verfasst“. Diese Individualität ist natürlich genau das, wonach auch Komponistinnen und Komponisten sich sehnen. Doch wird sie in Tanz und Ballett auf faszinierende Weise unterlaufen. Wenn eine Kreation erfolgreich sein soll, muss die Choreografie einem Musikstück zwangsläufig neue Rhythmen, neue Strukturen, neue Bedeutungen aufzwingen, so dass Tanz und Musik zusammen etwas Drittes, einen neuen schöpferischen Raum einnehmen. Das Ballett ist mehr als die Summe seiner einzelnen Bestandteile. Welch eine Herausforderung und welch eine Faszination für einen Komponisten, sich auf dieses Unterfangen einzulassen, unabhängig davon, ob ein Choreograf ein fertiges Werk verwendet oder ob das Ballett aus der Zusammenarbeit beider entsteht.

Zur Herausforderung und Faszination wurde es auch für mich, als ich begann, Tanzschaffende bei der Suche nach Musik für ihr nächstes Projekt zu unterstützen. Im Laufe des Jahrzehnts besuchte ich mehr als nur regelmäßig die Aufführungen von Sadler’s Wells, Royal Ballet und Southbank Centre, bestrebt, die Kunstform besser zu verstehen und die verschiedenen choreografischen Stile zu verinnerlichen. Richard Alston, Michael Clark und Siobhan Davies waren feste Größen der Londoner Szene, und William Forsythe, Trisha Brown, Twyla Tharp und Mark Morris tourten durch das Vereinigte Königreich. Jirí Kylián, Mats Ek, Nacho Duato, Johan Inger und andere schufen hinreißend schöne Werke am Nederlands Dans Theater. Und ich stellte fest, dass da eine neue Choreografen-Generation nach Musik gierte: William Tuckett, Cathy Marston, Alistair Marriott, Wayne McGregor und Christopher Wheeldon machten Furore und waren immer auf der Suche. Es war die Ära der CD – ich verschickte Tonträger, lud Choreografen zum gemeinsamen Hören ein und bot individuelle Hilfe an. Ashley Page nahm bei einem Verlagsbesuch John Adams’ Fearful Symmetries mit, und daraus wurde ein großer Hit für das Royal Ballet, zuhause und auf Tournee.

Manchmal hatte ich CDs versandt, und plötzlich wurde ein Stück ohne jeglichen weiteren Kontakt aufgegriffen. So geschehen um die Jahrtausendwende mit Musik von Karl Jenkins, von Nacho Duato in seinem seither hunderte Male aufgeführten „White Darkness“ verwendet, ebenso bei Jean-Christophe Maillots immens erfolgreichem Ballett zu Adams’ Fearful Symmetries, und Jirí Kylián choreografierte Musik von Michael Torke. Aber persönliche Verbindungen bleiben die wirkungsvollsten.

Ich hatte das Glück, beim Edinburgh Festival 2001 Christopher Wheeldons „Polyphonia“ zu sehen und ihn auch kurz zu treffen. Sicher nicht als Einzige fand ich das Ballett überwältigend. Ich überreichte ihm einen Stapel CDs und wagte kaum zu hoffen, dass er etwas davon anregend finden könnte. Doch er tat es – nämlich James MacMillans Stück Tryst, und sein wunderbares Ballett (mit Darcey Bussell auf dem Höhepunkt ihrer Karriere) hatte 2002 am Royal Ballet Premiere und tourt seitdem durch die Welt. Etwa zur selben Zeit lernte ich Wayne McGregor kennen; sein erstes Steve-Reich-Ballett „PreSentient“ (zum Triple Quartet) kam 2003 heraus, und Cathy Marston kreierte damals „Facing Viv“ zu Musik von John Adams. Cathy wird in Kürze wieder ein abendfüllendes Ballett erarbeiten – von wem die Musik stammt, wird noch nicht verraten! Der fortdauernde Austausch von Klängen und Ideen mit all diesen Schlüsselfiguren gehört zu unseren wichtigsten Tätigkeiten bei Boosey & Hawkes und brachte zahlreiche neue Ballette hervor.

Kompositionsaufträge für neue Ballettmusiken gibt es seltener, als wünschenswert wäre. Exemplarisch ist hier John Neumeiers lange und fruchtbare schöpferische Beziehung zu Lera Auerbach – ein Raum für beide, um gemeinsam einen künstlerischen Ausdruck zu finden, der über das individuell Persönliche hinausgeht. Mark-Anthony Turnages Musik für Wayne McGregors Undance von 2011 finde ich herausragend nicht nur als eine faszinierende Übereinkunft von Musik und Tanz, sondern auch mit dem übrigen Kreativteam einschließlich des bildenden Künstlers Mark Wallinger, mit dem Turnage auch bei anderen Projekten zusammengearbeitet hat.

Eine der interessantesten Fragen für Choreografen war damals und ist bis heute die Entscheidung zwischen klassischer und Popmusik. Die Unmittelbarkeit einer Popnummer ist eine große Versuchung, aber das Risiko, dass die Kreation „veraltet“, liegt auf der Hand. Die Verwendung klassischer Musik schlägt anfangs vielleicht nicht so hohe Wellen, hat aber mit Sicherheit bessere Chancen auf Langlebigkeit. Eine interessante Entwicklung der letzten Jahre war der Genrewechsel einiger Persönlichkeiten aus der Popwelt hin zur Orchesterkomposition, manchmal in Verbindung mit Ballett. Thomas Bangalter (von Daft Punk) komponierte jüngst ein abendfüllendes Orchesterwerk für Angelin Preljocaj, und dieses Ballett tourt nun durch die Welt. Auch hatten wir kürzlich die Ehre, Joan Armatradings erste Sinfonie zu veröffentlichen. Welche Musik und welche kompositorische Herkunft auch immer – Tanzschaffenden dabei zu helfen, aus Partituren Inspiration zu schöpfen, war all die Jahre ein intensiver und oft auch emotionaler Prozess. Es geht immer darum, das richtige Stück zur richtigen Choreografin, zum richtigen Choreografen zu bringen.

Als Verlag Prokofjews, Bernsteins und Strawinskys fremdelte Boosey & Hawkes nie mit der tänzerischen Verwendung von Musik. Ich erinnere mich, dass unser Team seit meinem Eintritt ins Unternehmen eine Gratwanderung vollführte zwischen Anfragen für etablierte choreografische Lieblinge wie Balanchines Strawinsky-Ballette oder Kenneth MacMillans Romeo und Julia und dem zunehmenden Trend der 1990er Jahre hin zu aktuellen Umsetzungen dieser klassischen Ballettpartituren des 20. Jahrhunderts – heiliges Terrain, das nun von Tanz-Titanen der Gegenwart neu vermessen wurde. Pina Bauschs Version des Sacre du printemps von 1975/76, die ich Anfang der 1990er Jahre nur auf Video gesehen hatte, erfüllt mich mit Ehrfurcht, aber abgesehen von ein oder zwei anderen gelungenen Neuinterpretationen schien sie mir ein absoluter Sonderfall zu sein. Ich hatte das Gefühl, das Originalwerk sei in sich so vollkommen, dass jede Berührung eine Katastrophe bedeutete.

Aber In jener Zeit verbreitete sich in der Kulturwelt das Renommee von Bauschs Sacre, und ihre erstaunliche Großtat bahnte schließlich anderen Choreografen der 1990er den Weg. Wir sahen gebannt zu, wie Michael Clark das Konzept des sakrosankten Meisterwerks unterlief, und es folgten so viele Sacre-Choreografien, dass ich sie bei weitem nicht alle sehen konnte. Unter denjenigen, die ich sah, einzelne hervorzuheben, fühlt sich falsch an, doch besonders brillant erschienen mir die so unterschiedlichen Versionen von Paul Taylor und John Neumeier, und aus der letzten Dekade sind jene von Mats Ek und Wayne McGregor meine persönlichen Favoriten. Die ‚forensische‘ Rekonstruktion von Nijinskys Originalchoreografie aus dem Jahr 1913 durch Millicent Hodson trug ihren Teil zum Sacre-Fieber bei, das über 150 neue Tanz-Interpretationen hervorbrachte. Matthew Bournes Schwanensee-Choreografie von 1995 eroberte die Welt im Sturm und dürfte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass man in den 1990er Jahren ein neues Gefühl der Freiheit beim Vertanzen von Klassikern empfand. Bournes folgende Choreografie zu Prokofjews Cinderella ist ein Evergreen, mit zahlreichen Wiederaufnahmen, und wir hatten die Ehre, danach noch einige Male mit ihm zusammenzuarbeiten, insbesondere bei „The Car Man“ zu Rodion Schtschedrins Carmen-Suite.

Ich kann abschließend nur sagen: Ich bin glücklich, dass kein Ende in Sicht ist! Moden mögen kommen und gehen, aber die Schnittstelle zwischen Musik und Tanz bleibt einer der faszinierendsten Aspekte kreativer Kunst in unserer Zeit: schwer fassbar, freudvoll, tiefgründig. Mit den Worten George Balanchines: „Musik will gesehen werden, und Tanz will gehört werden.“

*

Emma Kerr ist Vice President, Promotion in der Londoner Niederlassung von Boosey & Hawkes, wo sie die Karrieren einer Reihe führender Komponist*innen der Gegenwart betreut. Daneben engagiert sich sich als Kuratorin des Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance, London, und als Vorstandsmitglied der International Artist Managers’ Association IAMA.

Emma Kerr schrieb ihren Text für Heft 1/2024 der Verlagszeitschrift Boosey & Hawkes | Sikorski DAS MAGAZIN. Die gedruckte Ausgabe mit dem leicht gekürzten Beitrag erscheint im Februar 2024.
Übersetzung: Jens Luckwaldt
 

Szenenfoto: Jean-Christophe Maillots Ballett „Vers un Pays sage“ zu John Adams’ Fearful Symmetries (© Wiener Staatsballett / Michael Pöhn, 2013); Foto Emma Kerr: privat

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