B&B
Francis Bacon, einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, war Zeit seines Lebens fasziniert von Vincent van Gogh. Besonders ein Bild hat ihn lange Zeit beschäftigt: Der Maler auf dem Weg nach Tarascon. Dieses Gemälde aus der Spätphase van Goghs (es stammt aus dem Jahr 1888) ist eines seiner zahlreichen Selbstportaits und zeigt den Maler mit seiner Staffelei vor einem sommerlichen Kornfeld, dem Betrachter zugewandt. Es befand sich bis 1945 im heutigen Kulturhistorischen Museum Magdeburg und gilt seit Kriegsende als verschollen.
In David Sylvesters Gesprächen mit Francis Bacon gibt der Maler Auskunft über seine van Gogh-Obsession. Bacon kannte Der Maler auf dem Weg nach Tarascon nur von Reproduktionen. Er schuf 1957 insgesamt sechs davon inspirierte Gemälde, die van Goghs Bildkomposition auf persönliche Weise transformieren. Die Nummer III ist besonders eindrucksvoll. Der Boden erscheint hier teilweise blutrot gefärbt, der dunkle Schatten enorm vergrößert, und wenn man das schwarze Gesicht des Malers genauer betrachtet, vermeint man die Züge eines Totenkopfs zu erkennen. Van Goghs Leben endete zwei Jahre, nachdem er Der Maler auf dem Weg nach Tarascon schuf, tragisch. Die genauen Todesumstände sind mysteriös, die offizielle Todesursache lautet seit jeher Selbstmord. Auch wenn es seit einigen Jahren berechtigte Zweifel an dieser Theorie gibt (mehrere Hinweise deuten darauf hin, dass van Gogh von einem Jugendlichen – möglicherweise nach einem Streit und unabsichtlich – angeschossen wurde), so ist doch unbestreitbar, dass der Maler lebensmüde geworden war – seine letzten Aussagen auf seinem Totenbett bestätigen das jedenfalls eindeutig.
In den Jahren vor der Komposition von … auf dem Weg … habe ich mich intensiv sowohl mit van Gogh als auch mit Francis Bacon auseinandergesetzt. Als ich Bacons Study for a Portrait of van Gogh III zum ersten Mal sah, war meine Assoziation spontan Dies Irae.
Die bekannte gregorianische Dies Irae-Sequenz bildet denn auch das Ausgangsmaterial meiner Komposition. Alle harmonischen und melodischen Entwicklungen basieren darauf, man könnte daher die Struktur des Stücks als eine Folge von Variationen beschreiben. Dabei erscheint das Dies Irae-Thema als Grundlage für oft ungetrübt diatonische Akkordgebilde (ein seltener Fall in meinem bisherigem Werk), aber auch in verschiedentlich “chromatisierten” Varianten.
Um den Tonraum geringfügig zu erweitern, sind bei der sechsten und siebenten Viola die C-Saiten auf B herabgestimmt.
Das Stück ist in zwei Sätze unterteilt. Der erste Satz ist langsam und konfrontiert die erste Viola als Soloinstrument mit einem “Chor” der übrigen sechs, mit Dämpfer spielenden Violen. Der Charakter ist insgesamt elegisch und vorsichtig voranschreitend, nur gegen Ende gibt es einen ersten dichten Ausbruch.
Der zweite Satz ist durchwegs in schnellem Tempo gehalten und basiert auf einer kontinuierlichen Sechzehntelbewegung, die zu Beginn das Flimmern der Sommerhitze heraufzubeschwören scheint.
Die Stimmung schwankt zwischen euphorischer Ekstase und aufbrechenden inneren Konflikten:
ein Psychogramm des manisch-depressiven Künstlers.
Auf dem Höhepunkt des Stücks wird das bisher eher verborgen gehaltene Ausgangsmaterial, das Dies Irae-Thema, schließlich offengelegt und in seiner originalen Form präsentiert. Eine intensive, “ekstatische” Coda beschließt das Stück.
Bernd Richard Deutsch (2019)