Bote & Bock
Ich nehme Gesten, die mir nicht gehören, und doch! ...
Ich hebe sie auf, um selber in ihnen zu wohnen.
Rukke di gu – Blut ist im Schuh ...
Im Schutzraum
aus verbrauchter Zeit.
I.t.S.
Das Streichquartett Nr. 1 von Beethoven war zunächst im Kompositionsprozess mein ‚inneres Referenzstück’. Allerdings hat sich im Verlauf der Arbeit immer wieder die Nähe dazu verändert und Fragen zum Stück, aber auch zum Vorgang, sich auf ein Werk der Vergangenheit beziehen zu sollen, rückten in den Vordergrund.
Am Ende war der Abstand zu diesem ‚Referenzstück’ größer als zunächst geplant, „und doch ...“ gibt es verschiedene Bezüge, auch wenn sie nicht so deutlich sind.
Entscheidend für meine Arbeit blieb: wie resoniert dieses 1. Streichquartett, wie resoniert überhaupt die Musik Beethovens in mir (die ich früher leidenschaftlich gern auf dem Klavier gespielt habe, mein Examensstück war opus 111)? Und was genau? Sind es musikalische Gesten oder quasi ‚rhetorische Figuren’, sind es Themen oder Stimmungen?
Ab irgendeinem Punkt meinte ich, bestimmte ‚Pathosformeln’ erkennen zu können.
Diesen ‚Pathosformeln’ in der Musik Beethovens versuchte ich nachzuspüren und sie neu und anders zu formulieren.
Den Begriff ‚Pathosformel’ prägte der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866 – 1929).
Er glaubte, über die Zeiten hinweg bestimmte immer wiederkehrende Motive, bzw. ‚Ausdrucksgebärden’ in der Kunst ausmachen zu können, die seiner Ansicht nach auf einen „pathischen Grund“ verweisen, auf einen „überhistorischen Leidschatz der Menschheit“, ein „Prägewerk der Affekte“. ‚Pathosformeln’ sind nach Aby Warburg Bestandteil einer universalen Kulturgeschichte, „Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als Gedächtnis-bewahrtes Erbgut“.
Insofern ist „Und doch ...“ ein Versuch, mit meinen Möglichkeiten und mit ‚meiner Sprache’ eine ganz persönliche Erinnerungsspur zu zeichnen.
Für seine Abschiedssaison nach 35 Jahren kreierte das Hannoveraner Nomos-Quartett 2019 eine Konzertreihe rund um die Werke Ludwig van Beethovens, der ja auf dem Gebiet des Streichquartetts Maßstabsetzendes schuf. Bei Iris ter Schiphorst gab das Ensemble hierfür ein neues Werk in Auftrag, in dem die Komponistin sich zunächst mit Beethovens erstem Gattungsbeitrag auseinandersetzte. Jedoch wurde ihr Abstand zum Referenzstück größer als zunächst geplant, und ins Zentrum rückte die Frage: "Wie resoniert überhaupt die Musik Beethovens in mir? Sind es musikalische Gesten, sind es Themen oder Stimmungen?“ Klangliches Resultat dieser komponierenden Selbst-Erforschung ist – kontrastreich, oft geräuschhaft und die Ränder des dynamischen Spektrums ausreizend – die persönliche Neu-Formulierung Beethovenscher ‚Pathosformeln‘, also ins universale kulturelle Erbgut eingegrabener Zeichen leidenschaftlicher Erfahrung.