Boosey & Hawkes
Was ist die Sonatenform? Zwei kontrastierende Themen, der Konflikt und die Harmonie zwischen ihnen, ihre Entwicklung und motivisch-thematische Verarbeitung, die Dialektik von These, Antithese und Synthese – Beethoven, Hegel und vieles mehr ließe sich anführen. Doch zumindest für mein Empfinden liegt das Wesen der Sonatenform im Experimentieren mit harmonischer Richtung und Dynamik. Und gerade das ist der Grund, warum diese so alte musikalische Form - von unzähligen Komponist*innen übernommen und weiterentwickelt - bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat.
Wintersonate ist eine Studie und Hommage an diese Experimente mit musikalischer Form wie sie insbesondere in Beethovens Sonaten zu finden sind. Das Stück bewegt sich fortwährend zwischen Tonalität und Atonalität. Selbst in Momenten größter Dissonanz, ja selbst wenn die Grenzen der Atonalität überschritten werden, bleibt eine klare harmonische Richtung und Tonalität stets spürbar.
Wie für eine Sonate typisch, ist das Werk aus zwei Themen aufgebaut: dem ersten, dem Winter-Thema, und dem zweiten, dem Frühlings-Thema. Im Winter-Thema treten zwei Schichten hervor – eine pianistische und eine violinistische. Die Klavierschicht besteht aus den sehr „beethovenschen“ Tönen G, A, H und C, beginnend bei der Dominante G in C-Dur-Moll, über den Leitton H hin zur Tonika C. Zusammen mit einer melodischen Linie der Violine (G–Fis–Es–F) ergeben sich daraus vier Akkorde, die auf die Tonalitäten c-Moll und es-Moll hindeuten. Die Intervallbeziehungen zwischen diesen Akkorden sowie die Motive von Klavier und Violine treiben die Musik voran, wobei sich der Klangraum zunehmend in Richtung Atonalität verschiebt und die Dissonanz stetig wächst.
Nach einem kurzen Höhepunkt tritt das Frühlings-Thema auf. Es steht in völligem Kontrast zum ersten. Dieser überaus lyrische Abschnitt, reich an melodischen Wendungen und harmonischer Ausarbeitung, beinahe naiv in seinem Charakter, beginnt in F-Dur – der Tonart von Beethovens Violinsonate Nr. 5, der „Frühlingssonate“ – und bewegt sich durch B-Tonarten, mit unzähligen Modulationen. Doch trotz seiner träumerischen Qualität schleichen sich durch die harmonischen Mischungen im Klaviersatz – unüberhörbar von Beethoven inspiriert – kleine Momente der Unruhe und Spannung ein.
Die Durchführung ist in zwei große Teile gegliedert, jeweils aufbauend auf dem Winter- und dem Frühlings-Thema. Der erste Teil greift das Winter-Thema auf und variiert es charakterlich, experimentiert mit erweiterten Spieltechniken und harmonischen Färbungen. Der zweite Teil ist eine verdrehte, fast spöttische(!) Parodie auf Beethoven: harmonische Sequenzen, Tonartwechsel, funktionale Harmonik und Mischklänge – all das in extrem zugespitzter Form. Nach scheinbar endlosen Wiederholungen zerstört sich das Material schließlich selbst und mündet in die Reprise. Nach einer kurzen Wiederaufnahme der Exposition führt die Coda zurück in die Tonalität – allerdings nun in Fis-Dur, also dem Tritonus von der Anfangstonart C. In einer fast verzweifelt hoffnungsvollen, ja manischen Atmosphäre endet das Stück mit einer kraftvollen Bekräftigung des Tonika-Akkords.
„Wintersonate“ war ursprünglich nur ein Arbeitstitel – ein Scherz, den ich mir erlaubte, als ich das Stück während des düsteren Londoner Winters schrieb. Doch als sich die Idee des harmonischen Kontrasts zwischen Winter- und Frühlings-Thema und des Spannungsfelds zwischen Tonalität und Atonalität herauskristallisierte, wurde mir klar, dass dieser Titel das Werk treffend beschreibt. Komponist*innen sind schließlich Kinder ihrer Zeit. Das graue Winterwetter und die schrecklichen Nachrichten, die mich während des Komponierens umgaben, haben mich tief beeinflusst. Vor dem Fenster meines Ateliers steht ein großer Platanenbaum. Im Frühling der Pandemie baute ein Elsternpaar ein Nest in seinen Ästen. Seitdem kommen jedes Jahr neue Elstern, reparieren das alte Nest und schaffen sich ein eigenes Zuhause. Während ich dieses Stück schrieb, wartete ich auf den Frühling – und auf die Rückkehr der Elstern. Und jetzt, da das Werk vollendet ist, sind sie wieder da. Es sind oft die kleinen Dinge, in denen wir Hoffnung finden.
Donghoon Shin, 2025 (Übersetzung: Isabel Schubert)