Quartet for Four Flutes
(Quartett für vier Flöten) (1977)Sikorski
„Das Quartett vereinigt Fünfsätzigkeit mit absoluter Homogenität des musikalischen Materials, das sich im ersten Satz präsentiert und in den folgenden Sätzen entwickelt. Die zyklische Komposition hat sehr wenig mit der klassischen Form gemein, da sie formal frei genug ist und anmutige Improvisation mit strenger Intervallselektion vereint, verbunden mit verschiedenen Zuständen der musikalischen Materie: Chromatik, Diatonik, Pentatonik und nicht temperierte Mikrointervallik. Diese Komponenten gewinnen sukzessiv in verschiedenen Abschnitten die Oberhand oder werden mehrmals simultan übereinandergeschichtet. Die Fraktionierung der vier Zustände Chromatik, Diatonik, Pentatonik und Mikrointervallik tritt in diesem Werk Gubaidulinas zum ersten Mal deutlich zutage und lässt sich noch konsequenter in dem kurz danach komponierten Klavierkonzert ‚Introitus‘ (1978) beobachten.
Was die instrumentale Physiologie betrifft, ist das Stück sehr elegant konzipiert: 4 Sopran-Instrumente (nur zwei davon wechseln gelegentlich zur Altflöte) führen ein ungezwungenes Vogel-Gespräch und lassen dabei immer neue Klangfarben und polyphon-heterophone Konstellationen hervortreten.
Gubaidulina ist nicht nur frei von der typisch avantgardistischen Idiosynchrasie gegenüber Wiederholungen und der Erkennbarkeit von Motiven, sondern manifestiert beides geradezu (z.B. wiederholt der Anfang des 2. Satzes den des ersten buchstäblich Note für Note, die Fortsetzung geht aber in ganz andere Richtung und führt im Spiel ganz neue Klangfarben und Tonhöhenkomponenten ein: Vibrato im tiefen Register oder die Mikrointervallik multiphoner Klänge in der anschließenden Episode oder zu Beginn des 5. Satzes, wo das leicht erkennbare pentatonische Motiv des 1. Satzes in völlig neuen Kontext gestellt wird).
Diese Kombination von ungezwungener, sehr strenge Intervall-Auslese verbergender Improvisation, und einem klaren, narrativen Kompositionsplan bei großer Farbigkeit im Umgang mit den Instrumenten verleiht dem Quartett den besonderen Reiz und unterscheidet es deutlich vom alltäglichen Klischee von ‚Avantgardemusik für Flöte‘.
Das Werk wurde 1977 komponiert und im gleichen Jahr durch Pierre-Alain Biget, Pierre-Yves Artaud, Robert Thuillier und Arlete Leroy erstmals aufgeführt.“
(Viktor Suslin)