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Die Endlichkeit der Stille

Zur Musik des Georgiers Gija Kantscheli

In den von Giwi Ordschonikidse und Carl Dahlhaus gemeinsam herausgegebenen Beiträgen zur Musikkultur in der Sowjetunion und in der Bundesrepublik Deutschland kann man neben vielen diplomatisch gemeinten Sätzen über die völkerverbindende Qualität der Tonkunst eine interessante Bemerkung über das L’art pour l’art in der Musik finden: „Wenn sich der Komponist die Losung, 'Kunst um der Kunst willen‘ zu eigen macht und sich demonstrativ vom realen Leben abwendet, bekennt er sich damit nicht etwa zur ‘Freiheit des Schaffens’, sondern zu einem strengen Gesetz, welches nicht weniger konsequent befolgt wird als die entgegengesetzte Theorie vom engen Zusammenhang der Kunst mit der Realität.“ Solche Sätze waren Verteidigungsstrategien für Künstler, die sich den ästhetischen Forderungen des Sozialistischen Realismus entzogen. Man kann es zur Kunst der rhetorischen Mehrstimmigkeit zählen, die alle Künstler in der Sowjetunion beherrschten. Botschaften wurden unter einem Schwall ideologischer Floskeln an all jene weitergegeben, die den Code zu entschlüsseln verstanden.

Auch der Georgier Gija Kantscheli gehörte zu den Künstlern, die ihre Kunstansichten wie ihre Bekenntnisse nicht offenbaren konnten. Auf ihn wurde man im Grunde erst aufmerksam, als die Sowjetunion schon erste Auflösungserscheinungen zu zeigen begann und mit ihr jene hegemonistische Struktur, die es den Künstlern aus den Teilrepubliken schwermachte, sozusagen im russisch-orthodoxen Kulturleben zu bestehen. Arvo Pärt, Gija Kantscheli, Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina, die teilweise im Westen gelebt haben oder emigrieren mussten, bilden so im doppelten Sinne eine Avantgarde: durch die Faktur ihrer Werke und als Vorhut für die aus der Vormundschaft entlassenen Künstler, die es noch zu entdecken gilt.

Gija Kantscheli, der sich mit einem Stipendium in Berlin aufgehalten hat, später als Composer in residence nach Antwerpen ging, hat sich früher – wie Arvo Pärt, Erkki-Sven Tüür und eine Reihe zeitgenössischer Komponisten in der Sowjetunion – mit Filmmusik beschäftigt. Auch das war eine Form des Überlebens als Komponist. Denn die Arbeit an Soundtracks unterlag weniger strengen Überprüfungen durch die staatlichen Ästhetik-Kommissare. Dafür mußte man in Kauf nehmen, daß die Partituren gewissermaßen wie Würste auseinandergeschnitten und zu Häppchen verarbeitet wurden, denen man kaum mehr die ursprüngliche Struktur anmerkte. Immerhin aber wurde das Gespür für Dramaturgie geschärft, für Prägnanz und Charakteristik.

Das meint man auch dem imposanten Oeuvre des Georgiers Gija Kantscheli anzumerken, zu dem mittlerweile sieben Sinfonien, Instrumentalkonzerte, eine Oper und zahlreiche Kammermusikwerke gehören. Seine Klangwelt besitzt etwas ungemein Natürliches, als richteten sich die Töne nicht nach Gesetzen von Polyphonie, Akkordverbindung, Sequenz und Alteration etwa, sondern nach allgemeinen Prinzipien von Atemlänge und Verschnaufpausen, von Steigerung und Spannung, von Erregung und Ruhe, von Ebbe und Flut: eine Ausdruckskunst, deren Organik man verfolgen kann, ohne die Terminologie der musikalischen Handwerkslehre beherrschen zu müssen.

In Kantschelis Werken ist zudem ein gleichsam vokaler Charakter auch in den instrumentalen Partien spürbar. Julia Jewdokimowa hat das in ihren Analysen anschaulich beschrieben: „Während des musikalischen Geschehens hebt sich deutlich ein ,roter Faden‘ ab, dem besondere dramaturgische Bedeutung zukommt: Es ist dies ein Ensemble gleichsam singender Stimmen, das, einem festlichen Chor ähnlich, bald von weitem wie durch die Wände von Kathedralen zu uns dringt, bald ganz dicht an uns herankommt und eine volle, reich entfaltete Vielstimmigkeit erreicht.“

Wer Kantschelis Werke, vor allem seine Sinfonien kennt, wird in der Faktur dieser Kompositionen, bei aller Verschiedenheit der formalen Konzeption, viele Gemeinsamkeiten und charakteristische Elemente entdecken: die Neigung zur Kontemplation in kleinen, immer wieder um ein Intervall (oft die Sekunde) sich

windenden Motiven; attackierende Orchestereinbrüche in einen breit dahinfließenden melodischen Strom; leuchtende Bläserchöre; tonale Grundhaltung und einen fragenden, den Klängen nachhorchenden Gestus. Kantscheli zitiert nicht, seine Formen und Klänge, seine musikalische Haltung und seine Bilder sind wie von ferne verwandt mit den Klängen seines Landes, zu deren Sphäre es keine Heimkehr gibt. Giwi Ordschonikidse: „Ein Gestaltungsmoment, das genetisch mit dem georgischen Volksmusizieren zusammenhängt, wäre nicht fähig, in seinen ursprünglichen Kontext zurückzukehren, ohne die alte Tradition zu zerstören.“ Vielleicht hinterlassen deshalb viele Stücke Kantschelis in unserem Herzen einen solchen Nachhall. Sie rufen keine Genrebilder hervor, die mit unserer Realität kollidieren. Aber die Aura entspricht jener, die ein Dichter des Ostens vor Jahrhunderten eingefangen hat: „Sei geduldig wie die Erde, grabe ein, was du gehört hast, und warte, was davon als Saat wieder aufgeht.“

Es scheint, als habe die Musik Kantschelis in der Sowjetunion eine Anziehungskraft besessen, die das ganze Land Georgien schon immer für die russischen Künstler ausübte; vergleichbar etwa der Italien-Sehnsucht der Deutschen: „Land der großen Schicksale, der Abenteuer und des seelischen Glanzes“, wenn man die Worte Leo Tolstois noch zu erfühlen vermag. Aber eben eines, das sich seine Identität in den vielen Jahrhunderten der Fremdherrschaft nicht rauben ließ. Auch dafür kann man einen Dichter anrufen, den unglücklichen Ossip Mandelstam, dem in seinen Essays Armenien und Georgien, oder sagen wir besser: der Kaukasus, wie das gelobte Land erschienen waren: „Nie hat die russische Kultur Georgien ihre eigenen Werte aufzwingen können. Der Wein altert: darin liegt seine Zukunft; die Kultur gärt: darin liegt ihre Jugend. Bewahrt eure Kunst, den in die Erde eingegrabenen, engen Tonkrug!“

All diese Assoziationen erscheinen, weil wir davon wissen, weil wir sie dem Werk wie selbstverständlich aufbürden, aber auch, weil sie aus den Klängen selbst heraustönen; in den vielen, fremd anmutenden Sekundreibungen und einfachen melodischen Motiven als sanfte Erinnerung an die Folklore des Landes, in dem „orientalischen“ Gleichmut des ruhig schreitenden Melos, das der Komponist Alfred Schnittke bei Kantscheli als „die seltene Gabe eines schwebenden Zeitempfindens“ bezeichnet hat. Diese Musik wird vor uns ausgebreitet in nahezu ungeschützter Klanglichkeit und unverstellter Emotionalität. Die Verweigerung von virtuoser Rhetorik und technisch-kompositorischem Aufwand öffnet zugleich die Sinne für das, was wir mit unserem alltäglichen Zynismus und unserer Angst vor Bekenntnissen, unserem umfassenden musikalischen Verweigerungsprinzip und unserer Sucht, der Tendenz des Materials nachzuspüren, die nicht selten die Tendenz selbsternannter Kunstrichter ist, verloren haben: das Gespür für die Kraft einer Musik, die auf Tonalität und Diatonik baut, den Mut zum musikalisch-religiösen Credo und den Respekt vor seinen kompositorischen Gestaltungsmerkmalen; schließlich auch die Geduld für eine Musik, die sich nicht primär entwickelt, die die Motive assoziativ reiht und die in einem gleichförmigen, kontemplativen Duktus eher ausgebreitet als komponiert erscheint. In den Morgengebeten von Gija Kantscheli bauen sich die Akkorde aus einem ruhigen Unisono auf, als könne ihnen keine Tendenz des Materials etwas anhaben: eine Wirkung, die man in der Musik des Komponisten allenthalben zu spüren meint – als wollte sie nur die Endlichkeit der Stille bewusstmachen.

Wolfgang Sandner

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