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Plädoyer für eine eigengesetzliche, von Tonfällen der Avantgarde unterscheidbare Klangsprache

Krzysztof Meyer entstammt einer Krakauer Arztfamilie. Im Sommer des Kriegsjahrs 1943 geboren, empfing er seine ersten musikalischen Eindrücke auf Hauskonzerten seiner Großmutter väterlicherseits. Schon im frühen Kindesalter erhielt er Klavierunterricht, mit elf Jahren kamen Theorie- und Kompositionsstunden hinzu. Während der Gymnasialjahre förderte eine Schwester des Pianisten und Chopin-Herausgebers Jan Ekier sein Klavierspiel bis zur Konzertreife.
Das anschließende mehrjährige Kompositionsstudium bei Krzysztof Penderecki an der Krakauer Musikhochschule geriet eher schmal, blieb dem Maestro neben der Arbeit an der Lukas-Passion und vielen Konzertreisen doch wenig Zeit für seine Studenten. Dafür lud ihn Nadia Boulanger mehrfach zu ihren Kompositionskursen in Fontainebleau und Paris ein. Zudem gewann er in Moskau das Vertrauen von Dmitri Schostakowitsch, der ihm im Laufe der Jahre ebenso zum künstlerischen Ratgeber wurde wie Witold Lutoslawski in Warschau. Beiden fühlt er sich zeitlebens dankbar verbunden.
1965-67 wirkte Meyer als Pianist im Krakauer Ensemble für zeitgenössische Musik „WM-2“. Von 1966 bis 1987 unterrichtete er an der Hochschule seiner Heimatstadt musiktheoretische Fächer. Das Studienjahr 1980/81 verbrachte er als Stipendiat des Senats in Hamburg. Von 1987 bis zu seiner Emeritierung 2008 betreute er an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz eine Meisterklasse für Komposition.
Wiewohl zum schöpferischen Tonkünstler berufen, trat Krzysztof Meyer auch als Musikschriftsteller hervor. So verfasste er die erste Monografie über Dmitri Schostakowitsch (Krakau 1973, deutsch Leipzig 1980, dazu Bergisch-Gladbach 1995, revidiert Mainz 2008) und – gemeinsam mit seiner Frau, der Musikwissenschaftlerin Danuta Gwizdalanka – eine zweibändige Monografie über Witold Lutoslawski (Kraków 2003/04).

Grundzüge seines Schaffens

Meyers kompositorische Anfänge fielen in die 1960er Jahre, als die Strömungen der westlichen Avantgarde durch das Einfallstor des Festivals „Warschauer Herbst“ nach Polen gelangten: serielle und punktuelle Kompositionsverfahren, Vierteltonmusik, Experimente in der Übergangszone von Klang und Geräusch, Spiele mit dem gelenkten Zufall. Als junger Komponist war er zunächst bemüht, sich die Techniken und Tonfälle seiner Vorbilder anzueignen.
In den 1970er Jahren trat das Streben nach „unerhörten“ Klangwirkungen zurück hinter dem Bemühen, aus dem Studium älterer Meister (J. S. Bach, Mozart, Brahms) und der Klassiker des 20. Jahrhunderts (Bartók, Schostakowitsch, Lutoslawski) neue Schaffensperspektiven zu gewinnen. Auf der Suche nach einer eigenen Hierarchie der Klänge entwickelte er in den späteren 1980er- und den 1990er Jahren ein Harmoniesystem, das sich (ähnlich wie bei Bartók) achsenförmig um einen Ton oder ein Intervall zentriert. Wobei er den Tritonus bevorzugt.
Auf der Suche nach einer Dramaturgie, die den Leistungsgrenzen des Hörgedächtnisses Rechnung trägt, ohne historische Gestaltmuster zu kopieren, fand er das werkübergreifende Modell einer fünfphasigen Entwicklungsform, bestehend aus Initialphase, Hauptphase, Übergangsphase, einer „Phase besonderer Wichtigkeit“ und der Schlussphase: ein dem klassischen Drama angenähertes Bauprinzip, das seinen Symphonien, Konzerten und Kammermusiken seither einen zielstrebigen Erzählcharakter verleiht. Wobei jede Einzelheit in Beziehung zum Ganzen steht.
Grundsätzlich hält sich Meyer an die Maxime: Beschränkung des Materials, Mannigfaltigkeit der Ausarbeitung. Im „Haushalten“ mit dem Einfall, in der wachsenden Keuschheit seiner Formulierungen sowie in der Technik der entwickelnden Variation ähneln Arbeitsweise und Arbeitsethos des Polen den Schaffensprinzipien von Brahms, den er nach eigenem Bekunden mehr und mehr schätzen lernte – eine „Wahlverwandtschaft“, zu der er sich schon während seines Hamburg-Stipendiums mit der Hommage à Johannes Brahms für Orchester op. 59 (1982) bekannte.
Um die Dramaturgie einer Musik auf dem Podium wirkmächtig entfalten zu können, sei ein klares, unkompliziertes Notenbild vonnöten, weiß Meyer aus eigener Erfahrung als Interpret. „Das Schriftbild der Partitur wie der Stimmen sollte so funktional und einfach wie möglich sein.“ Die Fähigkeit, die Klangvision eines Werks plausibel zu notieren, zählt er daher zu den wesentlichen Momenten der Kompositionstechnik. Meisterstücke orthographischer Genauigkeit seien die Partituren von Lutoslawski und Ligeti.
Bei der Benennung seiner Werke bevorzugt Meyer traditionelle Gattungsbegriffe. Satztechnisch herrscht polyphones Denken vor. Zahlenkombinationen, Symmetrien und Proportionen (Goldener Schnitt) bilden ebenso Konstanten seines Komponierens wie Ausdrucksdichte, Klangfarbenreichtum und instrumentale Virtuosität, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts stilprägend zutage treten. Mit den Symphonien 7 und 8 – Sinfonia del tempo che passa op. 97 (2002/03) und Sinfonia da Requiem op. 111 (2007) oder den Chansons d’un rêveur solitaire für Sopran und Orchester auf Gedichte von Paul Verlaine op. 116 (2012) kommen nach dem Millennium „herbstliche“ Töne auf.

Schaffensverhältnis Instrumentalmusik / Vokalmusik

Summiert man die jeweils gestaltgewordene Zeit, wirkt Meyer mit seinen bislang zehn Symphonien, neun Solokonzerten, drei Doppelkonzerten und fünfzehn Streichquartetten als Instrumentalkomponist par excellence. Zugleich ausübender Musiker, nämlich virtuoser Pianist und konzerterfahrener Klavierpartner namhafter Streichquartette oder Kammerensembles, leitet ihn als Komponist immer der Sinn für das unverkrampft Mögliche. Getragen vom Wissen um die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehörsinns und Hörgedächtnisses, halten sich seine Anforderungen an die Ausführenden immer im Gleichgewicht zwischen physischem Aufwand und künstlerischer Wirkung.
Die Vorherrschaft der Instrumentalgattungen in seiner Werkstatt mindert nicht die Bedeutung seiner Vokalmusik. Mit der „phantastischen komischen Oper“ „Kyberiade“ (1967/70), der Chormesse op. 68 (1987; rev. 1996), der Kinderoper „Die verzauberten Brüder“ (1988/89), dem Te Deum op. 84 (1995; 2006), dem Oratorium „Schöpfung“ (1998/99) und nun gar dem abendfüllenden Opern-Dreiakter „Szlowiek na torach albo do trzech razy sztuka“ (2019/22) beglaubigt sich Meyer gleichermaßen als Vokalkomponist und Musikdramatiker.
Meyer beschreibt das Stück als „eine Art Satire, eine Groteske, die sich im dritten Akt in eine Tragödie verwandelt. Die Musik enthält natürlich auch illustrative Elemente, aber hinsichtlich Harmonie, Rhythmik, Instrumentierung und Tonhöhenorganisation ist sie mit meiner ‚absoluten‘ Musik eng verwandt, sowohl der kammermusikalischen als auch der für Orchester.“
Die Gesangspartien sind mehrheitlich rezitativisch angelegt. Doch gibt es auch Ensembleszenen, sogar einige „Arien par excellence“ in zeitgenössischer Tonsprache. Diese, so Meyer, weise eine Vielzahl von Stimmungen und Charakteren auf, sei also „keine reine Abstraktion.“ In gewisser Weise könne man sogar von einer musikalischen Verwandtschaft mit seiner früheren „Kyberiade“ (1967/70) sprechen. Das Sujet beider Opern sei „ähnlich surrealistisch und humorvoll“, desgleichen die unkonventionelle Instrumentierung.
Seit Jahren habe er versucht, seine persönliche Klangwelt sorgfältig aufzubauen und eine Musik zu schaffen, „die nach den sprichwörtlichen zwei Takten erkennbar wäre.“ Natürlich sei es enorm schwierig, einen eigenen, unverwechselbaren Stil zu finden, „was nur wenigen Komponisten in der Geschichte gelang“. Immerhin glaube er, in Werken der letzten Jahre „eine in gewissem Maße unverwechselbare Sprache“ gefunden zu haben.

© Lutz Lesle, 2023
(Musikwissenschaftler, Hochschullehrer, Bibliothekar, Autor und Publizist)

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