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Wenn die Bühne zur Welt wird ...
Der Komponist Manfred Trojahn

„Ich bin ein richtiges Theatertier“, hat Manfred Trojahn einmal über sich selbst gesagt. Was bei einem Komponisten nahelegt, dass er sich vor allem der Oper widmet, wo er lebendige Gestalten erschaffen, agieren und singen lassen kann. Es verwundert also nicht, dass sich Trojahn in den vergangenen dreißig Jahren vor allem dem Musiktheater gewidmet hat, obwohl er in dieser Zeit die instrumentale Musik nie vernachlässigt hat: Zu seinem Werkkatalog gehören immerhin fünf ausgewachsene Symphonien, mehrere Konzerte und viel Kammermusik. Doch seine besondere Liebe gehört der Oper. Schon mit seinem Erstlingswerk für die Bühne, „Enrico“, konnte der damals 42-Jährige überzeugen. Viele Häuser spielten die 1991 in Schwetzingen uraufgeführte dramatische Komödie nach. Das Werk zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Opern der vergangenen Jahrzehnte.

1949 in Cremlingen bei Braunschweig geboren, entschied sich Trojahn schon früh für die Musik, studierte Flöte bei Karlheinz Zöller und Komposition bei Diether de la Motte an der Hamburger Musikhochschule. Daneben besuchte er Kurse bei György Ligeti. Als Trojahn seine kompositorische Karriere begann, das war in den 1970er Jahren, prägte vor allem das serielle Denken die Welt der Neuen Musik in Zentraleuropa. Möglichst jeder Parameter des Tonsatzes sollte in Reihen organisiert werden; ein Verfahren, das nach Ende des Zweiten Weltkrieges vor allem Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez propagierten. Das erklärte Ziel war eine völlig neuartige Musiksprache, die nach Möglichkeit keine Berührungspunkte mehr mit der Tradition aufweisen sollte. So setzte etwa Stockhausen damals die Situation des Komponierens mit den zerbombten deutschen Städten gleich: „Die Städte sind radiert, und man kann von Grund auf neu anfangen, ohne Rücksicht auf Ruinen und 'geschmacklose' Überreste“ - so sein Credo.

Doch diese Art des Denkens war Trojahn völlig fremd. Seine musikalischen Vorstellungen gingen in eine ganz andere Richtung: „Ich habe mich natürlich auf traditionelle Musik bezogen, denn traditionelle Musik war sozusagen die ganze Zeit um mich.“ Immer wieder setzte er sich in seinen Arbeiten mit Werken Anderer auseinander. War das bei der 1974 entstandenen 1. Symphonie die Mikrotonalität György Ligetis, die ihn als Student stark beeindruckt hatte, so verweist die vier Jahre später veröffentlichte Zweite auf die intensive Rezeption der Musik Gustav Mahlers, der zu dieser Zeit gerade wiederentdeckt wurde. In den „Fünf Seebildern“ aus den Jahren 1979 bis 1983 schließlich beschäftigte sich Trojahn mit den Werken von Jean Sibelius und dem wenig bekannten schwedischen Komponisten Allan Pettersson.

„Die Neue Musik hat gesagt, die Tradition ist tot, die kann uns nicht mehr interessieren“, so Trojahn. „Ich bin hingegen der Auffassung, dass ich eine Sache, mit der ich ununterbrochen leben muss, weil ich sie jeden Tag höre, nicht einfach aus meinem Leben ausblenden kann. Also wird sie sich auch auf das künstlerische Produkt niederschlagen.“ Mit Werken wie den frühen Symphonien oder auch dem Kammermusikwerk „Objet trouvé“ für Flöte und Cembalo stellte sich Trojahn bewusst gegen die noch immer vorherrschende serielle Musik der Vätergeneration. „Objet trouvé“ etwa war eine bewusste Provokation. Denn das Stück, eine frei entwickelte atonale Form, die den Ergebnissen serieller Techniken nachgebildet ist, imitiert die damals vorherrschende Ästhetik und stellt sie zugleich bloß. Es ist bezeichnend, dass Wortführer der Avantgarde wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen diese Provokation nicht bemerkten und Trojahn darin bestärkten, auf diesem vermeintlich „richtigen“ Weg weiterzugehen. Doch nichts lag dem jungen Komponisten ferner.

Für Trojahn waren das Material und seine Verarbeitung grundsätzlich dem musikalischen Ausdruck untergeordnet. Damit stand er nicht allein. Auch andere damals junge Komponisten seiner Generation wie Wolfgang Rihm, Detlev Müller-Siemens oder Hans-Jürgen von Bose strebten nach einer wieder stärker subjektiv geprägten musikalischen Sprache. Dass diese „jungen Wilden“ von der Publizistik mit dem Ettikett „Neue Einfachheit“ belegt wurden, war allerdings ein Missverständnis. Denn Trojahns Musik etwa ist keineswegs einfach, sondern im Gegenteil hochkomplex. Trotzdem haben seine Werke häufig einen tonalen Bezug, wobei vor allem die Akkordverbindung C-Dur/c-Moll immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Musikalische Experimente oder bloße Versuchsanordnungen, wie sie damals en vogue waren, wird man in seinem Werkkatalog vergeblich suchen. Für ihn war das autonome Kunstwerk immer die entscheidende Kategorie.

Es mag aus dem zeitlichen Abstand absurd anmuten, aber in den letzten Dezennien des vergangenen Jahrhunderts musste man sich als zeitgenössischer Komponist entscheiden, welcher Sphäre man sich zugehörig fühlen wollte. Vertrat man einen vermeintlich radikalen Fortschrittsbegriff und folgte der „Tendenz des Materials“, wie der einflussreiche Musikphilosoph Theodor W. Adorno das formuliert hatte, so konnte man mit etwas Glück in den wichtigen Zentren der Avantgarde wie Darmstadt oder Donaueschingen reüssieren, musste sich dafür aber in der Regel mit einem kleinen, hochspezialisierten Publikum zufrieden geben.

Lehnte man dies als Komponist ab, einer größeren Breite der Ausdrucksmöglichkeiten wegen und um auch ein weniger elitäres Publikum zu erreichen, so hatte man eher Chancen, in den Opernhäusern und den traditionellen Symphoniekonzerten gespielt zu werden, war jedoch in Avantgardekreisen 'persona non grata'. Manfred Trojahn entschied sich schon früh für den zweiten Weg. Nicht zuletzt, weil ihm das Musiktheater immer besonders am Herzen lag: „Ich denke, meine Opern sind dadurch kompatibel, dass sie eine Geschichte erzählen. Wenn man diesen Weg als Komponist geht, muss man etwas akzeptieren, worüber viele Neutöner die Nase rümpfen – dass Musik auch manchmal Illustration sein kann, dass sie keine vollständige Autonomie besitzt. Ich bin ein sehr großer Fan von Richard Strauss, er hat mich mehr gelehrt als die meisten anderen.“ Bei seinen Opern vertraut Trojahn auf die emotionale Kraft der Musik und setzt nicht auf die dogmatische Mutwilligkeit einer Dekonstruktion von Handlung und Musik. Das schließt auch scheinbar altmodische handwerkliche Tugenden wie Textverständlichkeit ein. Ähnliches lässt sich auch von seinen anderen Beiträgen zur Vokalmusik sagen, etwa den mehr als 150 Liedern, die er seit 2004 komponiert hat.

Inzwischen bilden seine Opern – neben „Enrico“ seien hier nur „Was ihr wollt“ nach William Shakespeare, „La grande magia“ nach Eduardo De Filippo und „Orest“ nach Euripides genannt – im In- und Ausland einen Schwerpunkt des zeitgenössischen Repertoires. Trojahn zählt heute zu den wichtigsten Komponisten seiner Generation. Das Brucknerhaus in Linz veranstaltete bereits 1996 „Trojahn-Tage“ mit Kammermusikabenden, Seminaren und einem Orchesterkonzert.

Seit vielen Jahrzehnten pendelt der Komponist zwischen Deutschland und Frankreich, zuletzt zwischen Düsseldorf, wo er fast drei Jahrzehnte lang junge Komponisten ausbildete, und Paris. Diese Existenz in zwei unterschiedlichen Kulturen hat Spuren auch in seinen Werken hinterlassen: „Ich bewege mich da ja tatsächlich immer in einem Dazwischen. Da gibt es zum einen den Strang, der von Deutschland über Österreich nach Italien führt, ohne den ich nicht existieren kann. Und das andere ist die französisch-mittelmeerische Achse, ohne die es auch nicht geht. Ich kann nur beides nicht zusammenbringen. Es gibt Ensemblestücke, etwa die mit René-Char-Texten, die so unterschiedlich sind von anderen Stücken von mir, dass man beim Hören kaum vermuten würde, dass sie von ein und demselben Komponisten stammen.“ An anderer Stelle erläutert Trojahn: „Es gibt stilistisch sehr große Gegensätze in meiner Musik, was deren Wiedererkennungswert mindert. Ästhetisch hingegen bleibe ich mir jedoch durchaus treu, auch über Jahrzehnte hinweg.“ Die für die Musik Frankreichs so zentrale ästhetische Kategorie der „clarté“ spielt in vielen seiner Arbeiten eine zentrale Rolle. Sehr französisch ist zudem die Farbpalette seines Orchestersatzes, denn Trojahn erweist sich immer wieder als wahrer Klangzauberer.

Seine jüngste Oper, „Eurydice – Die Liebenden, blind“, die 2022 in Amsterdam Premiere hatte und bei den „Oper! Awards“ als beste Uraufführung ausgezeichnet wurde, beschäftigt sich mit dem Orpheus-Mythos und stellt ihn zugleich infrage. Das ist ein Stoff, wie geschaffen für Trojahn, ergibt sich hier doch neben der zeitlosen und immer aktuellen Thematik von Liebe und Tod auch die Möglichkeit einer gedanklichen und künstlerischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun.
© Martin Demmler, 2023

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