Expand
  • Besuche uns bei Facebook
  • Folge uns auf Twitter
  • Folge uns auf Instagram
  • Videos schauen in unserem YouTube-Kanal
  • Musik hören auf Spotify
  • Noten digital auf nkoda
English Deutsch

Die Musik von Rodion Shchedrin

Russisch zentriert und universell beheimatet, ein Werk im Wechselspiel von Empathie und Ironie

Rodion Konstantinowitsch Shchedrin ist geistig und emotional tief in der russischen Kultur verwurzelt. So konnte seine Musik hoch hinaus und weit verzweigt wachsen. Es gibt im Schaffen dieses Komponisten kein langsames Voran, kein tastendes Beginnen, keine Folge von Früh-, Haupt- und Spätwerk. Es ist von Anfang an alles da, Vielfalt der Genres und Stile, geistige Fülle, Originalität, Virtuosität, Erfindergeist, meisterhafte Instrumentationskunst und die Kraft des Authentischen. Eine auffallende Besonderheit, vielleicht ein Markenzeichen seines Schaffens ist das Wechselspiel zwischen Empathie und Ironie.

Diese beiden Pole – Einfühlung wie Distanz – sind wohl dem Herkommen des Komponisten zu danken, der 1932 in Moskau als Sohn eines Musikers und Enkel eines orthodoxen Priesters geboren wurde und der geistige Selbständigkeit wie kritisches Weltbewusstheit quasi in die Wiege gelegt bekam. Er habe „viel Avantgarde verdaut“, aber sich von ihr „weder irre, noch kirre“ machen lassen, so Rodion Shchedrin.

„Das Klavierkonzert war immer mein Experimentierfeld.“

In den Klavierkonzerten kreuzen sich Wege der Weltmusik und der Europäischen Moderne. Selbst ein glänzender Pianist und Organist, trat Rodion Shchedrin als Interpret eigener Werke solistisch in Erscheinung und begann in dieser Personalunion 1955 seine Karriere mit der Uraufführung seines 1. Klavierkonzertes, einem emphatischen wie ironischen Spiel mit russischer Folklore.

Das 2. Klavierkonzert gehört zu Shchedrins „Experimenten mit der Zwölftontechnik und dem Jazz“. Mit ihm brillierte er 1967 als Komponist und Pianist während einer Europatournee der Leningrader Philharmoniker unter der Leitung von Jewgeni Mrawinski.

Beim 3. Klavierkonzert, das aus 33 Variationen bestehet, die erst am Ende zu ihrem Thema finden, ließ sich Shchedrin „vom Phänomen der notierten Aleatorik“ inspirieren. Die Uraufführung 1974 war eine Sensation, als der Komponist in einer tour de force an einem einzigen Abend alle drei Klavierkonzerte selbst spielte.

Das 4. Klavierkonzert, ein Auftragswerk von Steinway zum 100. Gründungsjahr der Firma 1991, trägt den Untertitel Kreuztonarten. Die ausschließliche Verwendung von Kreuztonarten verstand Shchedrin als seine „Art des musikalischen Minimalismus“. Natürlich mit der gehörigen Portion Distanz zum gängigen Modetrend, denn die harmonische Einschränkung führt zu keiner Beschränkung, zu keiner unendlichen Folge des Immergleichen, im Gegenteil, der Komponist zaubert und bezaubert, mit Klangfarbeneffekten und thematischer Vielfalt.

„Musik für Klavier habe ich mein ganzes schöpferisches Leben lang geschrieben.“

Shchedrins Klavierkompositionen sind Dialoge mit einer Letzten Instanz über das Verhältnis zwischen ‘Ordo tonalis und ordo divinas’, zwischen der Ordnung der Töne und der göttlichen Ordnung. Am musikalischen Himmel des christlich-orthodoxen russischen Komponisten herrscht der protestantische deutsche Tonschöpfer Johann Sebastian Bach. Im Zeichen dieses Fixsterns entstanden zwischen 1964 und 1970 24 Präludien und Fugen für Klavier und 1972 das Polyphonisch Spielheft (25 Präludien für Klavier), Enzyklopädien musikalischer Formen, Huldigungen der Musik um ihrer selbst willen, fern jeder marktgängigen Attitüde.

Orchesterkonzerte, Witz, ironie und tiefere Bedeutung

Mit seinen Orchesterkonzerten schuf Shchedrin ein eigenes Genre, jenseits der zyklischen sinfonischen Form. In einem einzigen unaufhaltsamen Voran verschmilzt monothematisches mit vielmotivischem

Geschehen und die alte Variationstechnik bringt mit neuer beachtlicher Dynamik Kernmotive zum ‘explodieren’.

Die Nummer Eins unter den Orchesterkonzerten (Freche Orchesterscherze / Osornije tschastuschki) von 1963 ist auch die Nummer Eins in der Gunst von Publikum und Interpreten. Georg Balanchine dienten die Frechen Orchesterscherze als Ballettmusik, und sie begeisterte Leonard Bernstein so, dass er Shchedrin den Auftrag zu einem weiteren Orchesterkonzert gab, Glockenklänge aus dem Jahr 1968, einem nicht nur koloristischen Meisterstück. Einfühlung in den alten russischen Glockenklang und Distanz zu blinder Nostalgie, das Konzert „endet in der Erschießung des Glockengeläuts“.

In der Tradition dieser einsätzigen programmatisch aufgeladenen Orchesterkonzerte stehen auch die 1989 für die USA entstanden die Orchesterkonzerte Alte russische Zirkusmusik und Reigen.

Sinfonien: „Die Ewigkeit ist verliebt in das Phänomen der Zeit“

„Resonanzen der Vergangenheit“ nannte Shchedrin seine beiden Sinfonien. Das Echo des Krieges, die Ausbrüche von Gewalt und Aggression sowie die eigene emotionalen Verstrickung in Hass und Angst sind ihre Themen, die mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht abgetan sind und den beiden Sinfonien weiterhin einen Platz im Weltrepertoire sichern.

Mit „falsch angeordneten Sätzen“ steht die Sinfonie Nr.1 (1958) im Gegensatz zur traditionellen Struktur. Dazu kommt ein höchst unkonventioneller, durch Wildheit und Aggressivität auffallender Ton. Jenseits jeder klassischen Ausgewogenheit wird die Sprache eines verstörten Subjekts hörbar.

Die 2. Sinfonie (1962-1965) setzt diese Thematik fort. In 25 einander überlappenden Präludien, in Doppelfuge und Krebskanon tritt musikalische „Ewigkeit“ in Erscheinung, in sonoristischen, lautmalerischen Elementen und thematischen Kontrasten „das Phänomen der Zeit“.

Opern: „… von Humor, Ausgelassenheit und ätzendem Spott ist es immer nur ein halber Schritt bis zur Verzweiflung, zu Klagen und Tränen“

Shchedrins subjektive Neigung, sein Wechseln zwischen Einfühlung und Distanz, haben im russischen Alltag eine Entsprechung, nämlich in den sogenannten Tschastuschki, „einer erst im 20. Jahrhundert entstandene Form des russischen, dörflichen, improvisierten Gesangs (…) bei der es von Humor, Ausgelassenheit und ätzendem Spott immer nur ein halber Schritt bis zur Verzweiflung, zu Klagen und Tränen“ ist.

Exemplarische theatralische Ausformung fanden die Tschastuschki in Shchedrins Oper Nicht nur Liebe (1961, 1972 reduzierte Fassung). Der meisterhaften, bald scherzhaften, bald tragischen Opernmusik hat Shchedrin auf Anregung von Kyrill Kondraschin mit einer Orchestersuite zu konzertantem Dasein verholfen. Wer sich dem Zauber russischer Vokalkunst hingeben möchte, dem haben die beiden ersten Opern Shchedrins (Nicht nur Liebe und Die toten Seelen) viel zu bieten.

Wie kaum ein zweiter Komponist seiner Zeit, weiß Shchedrin, der auch ausgebildeter Chorleiter ist, um die Möglichkeiten und Besonderheiten der menschlichen Stimme. Wohl in keiner anderen Oper ist eine solche enorme stimmliche Vielfalt und Differenziertheit zu finden wie in Die Toten Seelen nach Nikolai Gogol aus dem Jahr 1974, dem theatralischen Hauptwerk Shchedrins. Eine Wunschkomposition, die er in Angriff nahm und zu Ende brachte, ohne zu wissen, ob sie jemals aufgeführt werden würde. Juri Temirkanow brachte die Oper schließlich mit großem Erfolg am Mariinski Theater in St. Petersburg zur Aufführung und spielte sie auch für die Schallplatte ein.

Psychischer Habitus und differenzierte Charakterauslotung der Shchedrinschen Opernfiguren wird, anders als bei vielen Zeitgenossen, weniger durch weitläufige Orchesterrede gezeichnet – seine Gestalten gewinnen vor allem durch die Linie des Vokalparts ihr unverwechselbares Profil – die Person ist vom ersten gesungenen Ton an präsent. Dabei kreiert er zahlreiche Rollen mit Gewicht und Profil besonders für Altistinnen und Mezzosoprane.

Aufregende Klangereignisse modelliert auch der Chor, pulsierende, irisierende Klänge, wie Wind, Finsternis, Licht, Donnergrollen. Chor wie Orchester sind mehr als nur Stichwortgeber, sind aktive gleichberechtigte Partner der Solisten. Anstelle von Violine I und Violine II musiziert ein 28stimmiger Kammerchor, dazu zwei Solistinnen (Mezzosopran und Alt) in der russischen Art des ,Kehlkopfsingens‘.

Ist im Orchestergraben archaische Heterophonie mit dem Prinzip der Zwölftönigkeit verknüpft, laufen auf theatralischer Ebene zwei Handlungen parallel, eine opera buffa und eine opera seria. Nicht nacheinander wie in Richard Strauss‘ Ariadne auf Naxos, sondern gleichzeitig, parallel, einander unterbrechend und vermischend. Im buchstäblichen Sinne sind Die Toten Seelen von unverkennbar russischem Wesen und internationalem Format.

Ballette: „für jedes Thema eine individuelle Lösung“

Mit Maja Plissezkaja, der legendären Primaballerina des Bolschoi Theater, verbindet den Komponisten nicht nur eine langjährige Ehe, sondern auch eine schöpferische Gemeinschaft. Für Maja Plissezkaja schrieb er alle seine Ballettmusiken: Das bucklige Pferdchen (1960, nach russischen Volksmärchen), Carmen-Suite (1967, nach Georges Bizet), Anna Karenina (1972, nach Lew Tolstoi), Die Möwe und Die Dame mit dem Hündchen (1980 bzw. 1985, beide nach Anton Tschechow). Sie sind alle im internationalen Ballett-Repertoire vertreten und finden auch im Konzertsaal ihren Platz wie die Romantische Musik Anna Karenina von 1978/1979.

Die Carmen-Suite für Streicher und Schlagzeug, ein brillantes Arrangement von Material aus Bizets Oper unter Hinzufügung zweier Ausschnitte aus Bizets Arlésienne-Musik und der Oper La Jolie Fille de Perth, gehört zu den meistaufgeführten Ballettmusiken weltweit.

Anna Karenina verweist schon mit dem Untertitel ‘Lyrische Szenen’ auf Tschaikowskis Oper Eugen Onegin. Shchedrin hat sich hier in Struktur, Emphase sowie durch Zitate mit dem Altmeister der russischen Oper und des Ballettes verbrüdert.

Die Musik zu Die Möwe, besteht aus einer für ein Ballett ungewöhnlichen musikalischen Form, aus 24 Präludien, drei Interludien und einem Postludium. Dazu kommt als Leitmotiv ein stilisierter Möwenschrei. Shchedrin hat diese Ballettmusik 1984 als Orchestersuite für den Konzertsaal bearbeitet.

Bei Die Dame mit dem Hündchen überrascht Shchedrin mit einem „unvollständig besetzten Orchester“ – Streicher, zwei Oboen, zwei Hörner und Celesta – mit dem Ergebnis eines „emotional-heißen Klangs“.

Shchedrin schuf eine neue Art von Ballettmusik, die auf die Bedürfnisse des Tanzes ausgerichtet ist, klar und transparent in der Vorgabe für tänzerische Aktionen. Gleichzeitig aber ist sie mit einem das Ganze überspannenden Netz sinfonisch-thematischer Bezüge versehen, und bewahrt sich so ihre Selbständigkeit, wartet fern des konkreten Geschehens mit einem eigenen und eigenständigem Subtext auf.

Chorkompositionen: „Wie versöhnt man das Vergängliche und das Unwandelbare?“

Im Norden Europas mit seiner ausgeprägten Chortradition schätzt man Shchedrin als einen Meisterkomponisten des A-cappella-Gesangs, der seinesgleichen sucht. Kein Ereignis, das er nicht allein durch den Chorklang herzustellen wüsste, Aufruhr, Stille, unterdrückte Angst, Glockengeläut wie in Die Hinrichtung des Pugatschow (1981).

Vor allem aber bewahrt er, der seine Kindheit auf dem russischen Dorf verbracht hat, das Echo verklungener Lieder auf, wie in den wunderschönen A-Cappella-Chören Weide, kleine Weide/Iwa, Iwuschka (1954) und Russische Dörfer (1973) oder dem Concertino, einem textlosen viersätzigen Meisterwerk für gemischten Chor sowie den Strophen Eugen Onegin (beide 1982).

„Meine Seele, erhebe dich, was schläfst du?“

Shchedrin bekennt sich zu einem religiösen Impetus, ohne sich einer kirchlichen Doktrin zu unterwerfen. Lange bevor mit der Perestroika das Bekenntnis zum russisch-orthodoxen Glauben eine Mode wurde, schuf Shchedrin religiös intendierte Werke.

Dazu zählt das Poetorium, eine russische Passion, die 1968 auf Verse des Dichters Andrej Wossnesenski entstand, einem Freund und Weggefährten Shchedrins.

„Meine Seele, erhebe dich, was schläfst du?“ Zu dieser Evokation fand Shchedrin in dem Chorwerk Der versiegelte Engel nach Nikolai Leskow (1988). Eine gültige, viele der Werke erhellende Formel.

Dies gilt besonders für Das musikalische Opfer für Orgel, 3 Flöten, 3 Fagotte, 3 Posaunen. 1983 zum 300. Geburtstag von J. S. Bach entstanden, ist Das Musikalische Opfer mit seiner Spieldauer von mehr als zwei Stunden nicht nur eine Hommage auf den deutschen Tonsetzer. Es handelt sich um eine Musik, die nicht der gängigen Funktion von Kunst folgt, die nicht menschliche Irrungen und Wirrungen zum Ausdruck bringt, sondern den Zugang zu einer Letzte Instanz sucht, um eine gleichsam ‘entpersönlichte’ Musik. Allein in Bezug auf die Spieldauer ist Das musikalische Opfer (im positiven Sinn) eine Zumutung. Später entschloss sich der Komponist zu einer Kürzung des Werkes, die jedoch die musikalische Struktur der Komposition nicht antastet. In Zeiten zunehmender Polarisierung von Glaubensfragen gibt Rodion Shchedrin ein Beispiel der geistigen Verbundenheit eines getauften, gläubigen russisch-orthodoxen Christen mit einem protestantischen deutschen Tonschöpfer: „Meine Seele, erhebe dich, was schläfst du?“

Dem Musikalischen Opfer aus dem Jahr 1983 wie Stichira (Lobpreisung, eine Sinfonisierung des altslawischen Kirchengesangs), 1988 zur 1000-Jahr-Feier der Christianisierung Russlands entstanden, liegt der Gedanke zugrunde, Freudlosigkeit, Angst und Verlassenheit durch Gottes-Liebe und Gottes-Lob zu transzendieren.

Shchedrin bezeichnete seine musikalische Position als ‘postavantgardistisch’. Das bedeutet für ihn, „dass alle Einschränkungen, alles ‘Das darf man nicht’, ‘Das ist nicht üblich’, ‘Das wird man missbilligen’ gestrichen sind. Die Vögel werden aus dem Käfig gelassen, es wird so geschrieben, wie man schreiben muss und wie man empfindet.“

Rodion Shchedrin und Maja Plissetzkaja übersiedelten 1991/1992 von Moskau nach München. Alle Werke Shchedrins, die nicht in diesem Verzeichnis genannt werden, sind beim Musikverlag Schott erschienen.

Sigrid Nee

Erfahren Sie immer das Neueste über unsere Komponist*innen und Notenausgaben