Berthold Goldschmidt
Eine Einführung in die Musik Goldschmidts von Michael Struck
Die Wiederentdeckung der Musik Berthold Goldschmidts (1903-1996) gehört zu den markanten musikalischen Ereignissen des späten 20. Jahrhunderts. Der junge Komponist hatte als "eine der großen Hoffnungen der deutschen Musik" (H. F. Redlich) vor 1933 gelten können. Doch jahrzehntelang war sein Schaffen in Deutschland vergessen. Bestenfalls wußte man, daß er Deryck Cooke bei der Vervollständigung von Mahlers 10. Sinfonie beraten und 1964 die Londoner Uraufführung dieser Konzertfassung geleitet hatte. Auch in Großbritannien, wohin er 1935 floh, fand seine Musik nur begrenzt Beachtung.
Der in Hamburg geborene Goldschmidt studierte in Franz Schrekers Berliner Meisterklasse Komposition, assistierte Erich Kleiber bei der Uraufführung von Alban Bergs Wozzeck und wirkte als musikalischer Berater Carl Eberts sowie als Dirigent in Darmstadt und Berlin. Goldschmidts frühe Werke haben ein unverwechselbares Profil innerhalb der musikalischen Strömungen Deutschlands und Europas um 1930, wobei sie – will man Vergleiche bemühen – stärkere Affinitäten zu Hindemith und Weill, Prokofieff oder Schostakowitsch als zur Zweiten Wiener Schule zeigen. Tänzerische Lebhaftigkeit, ja Aggressivität und expressives Aufladen streng verbindlicher Satztechniken sind die Pole einer freitonalen Musik, die vielseitig und undogmatisch ist, witzig-ironisch sein kann, doch tief lotet.
So setzen sich das 1. Streichquartett und die prickelnd-virtuose Ouvertüre “Komödie der Irrungen” (Goldschmidts meistaufgeführtes Stück vor 1933) geistvoll-spielerisch mit der Tradition auseinander. Die Klaviersonate und die jahrzehntelang verschollene, erst 1994 wiederentdeckte Partita für Orchester zählen mit ihrer radikalen, die Grenzen der Tonalität streifenden Linearität, ihrer Motorik und heftigen Klangentladungen zur avancierten Musik der 1920er Jahre. Der gewaltige Hahnrei, eine der bedeutendsten deutschsprachigen Opern ihrer Zeit, verschmilzt divergierende Stilelemente zu einem wirkungsvollen dramatischen Ganzen und belegt, daß der junge Goldschmidt auch ein genuiner Opernkomponist war. Doch die verheißungsvollen Perspektiven, die die Mannheimer Uraufführung (1932) eröffnete, hatten im nationalsozialistischen Deutschland keine Chance.
Im Londoner Refugium machte sich Goldschmidt nach mühsamen Anfängen allmählich als BBC-Mitarbeiter und Dirigent einen Namen. 1947 wurde er britischer Staatsbürger. Zwischen 1936 und 1958 entstanden neben dem 2. Streichquartett, das als Inbegriff seiner Musik gelten kann, sowie Klavierliedern vor allem Orchester- und Konzertkompositionen: Die Ciaccona Sinfonica verbindet eindrucksvoll freitonales Idiom und reihenartige Kompositionstechnik; ähnliche Repertoire-Bereicherungen sind die drei Solokonzerte oder der atmosphärereiche Orchesterlied-Zyklus Mediterranean Songs. Goldschmidts zweite, englischsprachige Oper Beatrice Cenci, die im Unterschied zum Gewaltigen Hahnrei eher an Belcanto-Prinzipien orientiert ist, gewann einen Preis beim Opernwettbewerb des Festival of Britain 1951, wurde aber erst 1988 konzertant (London) und 1994 szenisch (Magdeburg) uraufgeführt.
Anfang der 1980er Jahre fand Goldschmidt in Österreich, den USA, schließlich auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern neue Beachtung. Dieses Interesse kulminierte 1993-95 in zahlreichen Aufführungen, die auch beide Opern einschlossen. 1982 begann Goldschmidt nach fast 25jährigem Verstummen erneut zu komponieren und schuf ein bemerkenswertes Spätwerk. Dieses umfaßt neben Kompositionen mit Orchester – darunter zwei prägnanten kurzen Vokalzyklen (Les petits adieux, Deux nocturnes) – vor allem Kammermusik: Werke wie das Klarinettenquartett, das Streichtrio Retrospectrum oder das ebenso konzentrierte wie facettenreiche, hochexpressive 4. Streichquartett ziehen überzeugende Konsequenzen aus den geschichtlichen und ästhetischen Erfahrungen Goldschmidts. Kompromißlos und eindringlich werden Probleme historisch-ästhetischer Verzerrungen und Brüche kompositorisch erörtert, zum Ausdruck und zur Gestalt gebracht. So finden sich in den verschiedenen Phasen von Goldschmidts OEuvre fesselnde, gültige Beiträge zur Musik des 20. Jahrhunderts.
Michael Struck, 2001
(Musikwissenschaftler, Journalist und Pianist, Mitglied des Editionsgremiums der Brahms Gesamtausgabe an der Universität Kiel und einer der führenden Forscher über das Werk Berthold Goldschmidts)