Sergei Rachmaninoff
Eine Einführung in die Musik Sergei Rachmaninoffs
von Geoffrey Norris
Als Pianist wurde Rachmaninoff bei jedem Auftritt gefeiert; als Dirigent erntete er überschwengliches Lob. Er selbst verstand sich jedoch in erster Linie als Komponist, und es ist seine Musik, in der sein Vermächtnis fortdauert. Auch wenn er natürlich zu Lebzeiten hauptsächlich durch seine Klavierwerke bekannt wurde, setzte er sich über die traditionelle Vorstellung vom komponierenden Virtuosen hinweg, indem er sich einfallsreich und dem jeweiligen Idiom gerecht in einer Vielzahl von Gattungen als Komponist bewährte: Von den vier Klavierkonzerten, der Paganini-Rhapsodie und mehreren Stücksammlungen für Soloklavier abgesehen, fühlte sich Rachmaninoff zur Welt der Oper hingezogen, zur Sinfonik, zum Chorrepertoire, zur Kammermusik und zum Lied.
Von seiner Studentenzeit bis 1918, als er Rußland verließ, komponierte Rachmaninoff mehr oder weniger unablässig. Nach einer Ausbildung am Moskauer Konservatorium, die er mit den höchsten Auszeichnungen seit Menschengedenken abschloß, machte er sich rasch einen Namen: Es war nicht nur das Prélude in cis-Moll, das die Aufmerksamkeit des Publikums erregte, sondern auch seine Oper Aleko, ein Werk, an dem Tchaikovsky besonderes Gefallen fand. Danach sagte sich Rachmaninoff vom Einfluß Tchaikovskys und seiner Lehrer Arenski und Tanejew los und eignete sich einen persönlichen, überaus individuellen Stil an, der sich auf eine breite und schwungvolle Melodik gründete, auf harmonische Kraft und bei den Orchesterwerken auf eine Üppigkeit, die durch äußersten Scharfsinn bei der Auswahl und Zusammenstellung von Instrumenten in Schranken gehalten wird.
Der kritische Verriß, der seiner 1. Sinfonie bei der Uraufführung 1897 zuteil wurde, hemmte rund drei Jahre lang den musikalischen Strom, doch der 1901 mit dem 2. Klavierkonzert erzielte Erfolg gab ihm neues Selbstvertrauen. Fast zwei Jahrzehnte lang brachte Rachmaninoff die nötige Inspiration auf, um die große Mehrheit seiner bedeutenden Werke zu schreiben, meistens in Frieden und Ruhe auf seinem entlegenen Gut in Iwanowka auf dem Land südöstlich von Moskau.
Das Bedürfnis nach Ruhe wurde noch ausgeprägter, nachdem er Rußland verlassen hatte und im Westen ansässig geworden war: Seine neue hektische Karriere von Konzertauftritten ließ ihm wenig Zeit zum Komponieren, doch fand er in der Villa Senar, die er am Ufer des Luzerner Sees erbauen ließ, eine Iwanowka vergleichbare Stille, in der er seine späten Meisterwerke zu schaffen vermochte. Überall in seiner Musik, wo immer sie komponiert wurde und wie überschwenglich sie auch klingen mag, deuten sich dunklere Nuancen an, so zum Beispiel in seiner sinfonischen Dichtung Die Toteninsel, in der 2. Sinfonie oder im Finale seiner großartigen Chorsinfonie Die Glocken. Selbst wenn Rachmaninoffs Musik dem Anschein nach ganz und gar offen und leidenschaftlich ist, enthält sie immer einen faszinierenden, unterschwelligen Anflug von persönlicher Emotion.
Geoffrey Norris, 1994